Lisa, ehemalige Freiwillige 2018/19 in den Niederlanden im „HerinnerIngscentrum Westerbork“, Studentin der Geschichte und Aktive in der Regionalgruppe Thüringen, hat beim Rückkehrerseminar der Freiwilligen einen beeindruckenden Poetry Slam-Text vorgetragen.
Da kam diese Frau im Oktober in Amsterdam, um die 70 mit Esprit, Geschichte und Gesang.
ASF so verbunden, Mentorin für uns.
„Ich studiere auch Geschichte“, sagte ich ihr.
„Oh. Bist du auch wegen der 2. Generation hier?“
Die 2. Generation, das Leben danach. Über, überleben, ein Leben mit Schmach.
Mit Scham. Mit Makel. „Warum denn nur wir?“
Das waren Jeanettes Eltern. Ich frage, und sie erzählt es mir.
Die Geschichte der Eltern, ein Leben wie im Versteck.
Im „onderduik“, nie lang am selben Fleck.
Das Schweigen hatte Zeit. Vater stirbt bald, Mutter war nicht bereit.
Bereit zu sprechen, zu trauern, zu fühlen. Die Lösung war, sich abzukühlen.
Aber Jeanette, sie will das nicht. Doch bis sie mit dem Schweigen bricht,
ist es 1980.
Sie ist schon fast 40, als sie endlich fragt. Und Mutter über 60, als sie etwas sagt.
Deutsche Jüdin, 1935 in Berlin, bald staatenlos. Ab wann war die Angst zu groß?
Nach Amsterdam, aber dort ohne Schiff. Die Überfahrt misslingt.
Als 1940 die Deutschen kommen, weiß sie schon, wie Verfolgung klingt.
Das Lager Barneveld war nicht, was ich von einem Lager denke. Denn hier trifft sie Vater. Niederländer. Im Lager Westerbork machten sie einander die teuersten Geschenke:
Liebe füreinander. Hoffnung, die um sie greift.
Doch als der Zug gen Osten „Theresienstadt“ pfeift, wird es dunkel.
Sie soll weiter. An einen Ort, der Auschwitz heißt.
Sie sagt: „Nein, ich kann nicht fort.“ „Wieso nicht, Fräulein?“ „Mein Verlobter ist nicht dort.“
Es war eine Lüge. Deswegen bleibt sie leben. Sie heiratet, um nicht zu gehen.
Aber da war auch Liebe. Jeanette weiß das sicher. Die beiden überleben.
Schwach, jung, allein und bitter.
Die Eheleute werden Eltern. Kind eins, zwei und drei.
Zwei ist Jeanette. Damals fühlt sie sich nie wirklich frei.
Sei artig, sei fleißig, sei brav. Fall‘ niemals auf. Jeanette sagt, es war nie „gezellig thuis“.
Noch 40 Jahre später ist es kalt und still. Da beschließt sie, dass sie das so nicht mehr will.
Sie studiert spät noch einmal, was sie wirklich bewegt.
Geschichte, Judaistik, viel mehr noch, und: es geht.
Bald fragt sie die anderen, Mutter und sich selbst. Heut spricht sie vor Schulklassen in Amsterdam. Es waren Jahre voll harter Arbeit. Auch, damit ich sie jetzt fragen kann.
„Vor 30 Jahren hättest du mich kaum gemocht“, sagt Jeanette, als wir enden.
„Warum das? Das glaube ich nicht.“ – „Doch, und ich kann es dir nicht verdenken.“
Ich fühle mich ihr nahe. Und doch, wie anders wir die Welt wohl sehen?
Ich denke an Deutschland, mein Land, die Geschichte und, wo ich darin stehe. Ich bin Deutsche, hier in Amsterdam im Freiwilligendienst eines „Sühnezeichens“.
Ich frage Jeanette: „Kannst du mich da verstehen?“
Doch sie sagt: „Nein, das stimmt so nicht. Du fühlst es doch. Du siehst all mein Gewicht.“
„Wirst du es jemals ganz verlieren?“, frage ich sie voll Verdruss.
Sie sagt: „1989 dachte ich jetzt, jetzt ist damit Schluss.“
Die Zeit des Umbruchs, Mauerfälle. Eiserner Vorhang, der endlich zerbricht. Alles ist möglich.
Auch, dass die Liebe endlich den Hass aussticht.
2020 liegt unsere Welt halb am Boden. Europa, die USA, Syrien, oh ihr wisst, wo überall noch Hass, Krieg, Ausgrenzung und Konflikte toben.
Jeanette hat ihre Koffer noch parat. Das haben sehr viele, lernt man, wenn man fragt.
Wohin würde sie gehen? In die USA? Nein, nicht mehr. Wohl nach Kanada.
Halle hat sie nicht erschüttert. Denn es war keine Überraschung.
Doch jedes Mal stirbt etwas ihrer alten Hoffnung.
Und wir?
Polizeischutz, Antisemitismus, Gamer-Szene. Gefunden, die Schuldigen, im Nu.
Mir schnürt sich nur die Kehle zu.
Ich fühle noch, kann noch nicht denken. Noch keine Analysekategorien schwenken.
Elie Wiesel schrieb: Das Gegenteil von Hass ist nicht die Liebe.
Giftigen Sand in unser Herzgetriebe streut schon nur das, was ich jetzt sehe:
Gleichgültigkeit.
Ist’s erst egal, ist es zu spät. Fühl ich es nicht, ist es zu spät.
Also was, Betroffenheit? Nein, das ist anmaßend. Mäßigkeit!
Und überhaupt, wo führt das hin? Du bist doch Wissenschaftlerin!
Ich bin ihrer so müde, der -keiten und -heiten und -ismen.
Ich glaube, dass Jeanette schon ihre Koffer packt. Ich werde sie vermissen.
Das ist Amsterdam. Und hier sind die, die noch hoffen und fühlen, dass sie mit uns leben.
Mit uns im „Wir“, nicht „wir“ mit „denen“. Was glaubt ihr? Wie lange noch, bis sie gehen?
So gab mir Jeanette mit die wichtigste Lehre. Für mich heißt, es fühlen, es erst zu nehmen.
Darum kann ich mir bestimmte Debatten nicht mehr geben.
Es reicht mir mit Höcke, mit Brandter und co. Mit Sätzen von Wenden, deutschem Selbstwert, Schuldkomplex, denn ernsthaft: wieso?
Jeanettes Eltern sind nicht der Grund, dass ihr euch mit eurem Deutschsein schlecht fühlt.
Denn dass sie sich erinnert, erzählt, nicht weiter abkühlt;
das ist eine Leistung – kein Angriff auf euer Nationalgefühl, dass ihr an der falschen Stelle spürt.
Ich will keinen Sand mehr in unserem Getriebe.