Blog | 13. Dezember 2021

Bereichernde Begegnungen mit Shoah-Überlebenden in Israel

Meinen Freiwilligendienst in Haifa, Israel, mache ich in zwei Projekten: zum einen in einem Frauenhaus, in dem Frauen und Kinder in Notlage vorübergehend wohnen, zum anderen bei Amcha, einer psychosozialen Beratungsstelle für traumatisierte Überlebende der Shoah und ihre Familien. Im Frauenhaus arbeite ich zum großen Teil mit Kindern und Jugendlichen. Die Altersspanne beträgt drei Monate bis 17 Jahre. Dementsprechend breit gefächert sind die Arbeitsbereiche, von Windelnwechseln bei den Babys bis zu Nachhilfeunterricht für die Jugendlichen. Auch wenn die Arbeit sehr herausfordernd ist, liebe ich sie, und die Kinder sind mir unglaublich ans Herz gewachsen.

 Im Folgenden werde ich aber zum Großteil auf die Arbeit bei Amcha eingehen.

Dort unterrichte ich am Morgen mit einem anderen Freiwilligen Klient*innen in Englisch. Zunächst erwies sich das als etwas schwierig, da alle auf einem anderen Stand sind. Inzwischen freut es mich aber zu sehen, wie sich alle beteiligen und sich jedes Mal auf den Unterricht freuen. Danach besuchen wir zwei Shoah-Überlebende in ihrem Zuhause.

A. ist ein unglaublich herzlicher Mann, bei dem sich jedes Treffen wie eine außergewöhnliche Geschichtsstunde anfühlt. Er ist bemerkenswert intelligent und hat sehr vieles erlebt. Jedes Mal hat er entweder ein geschichtliches Ereignis vorbereitet oder eine politische Diskussion erwartet uns. Natürlich wird es auch oft persönlich. Er war an der zionistischen Bewegung in Rumänien beteiligt. Da er einer der führenden Kräfte war, musste er zweimal ins Gefängnis. Die letzten Male untermalte er seine Erzählungen mit Fotos aus der Zeit, was sehr beeindruckend für uns war.

Auch B. ist eine sehr liebevolle Person. Bei jedem Treffen werden wir mit einer herzlichen Umarmung und einem dicken Schmatzer auf die Wange begrüßt und verabschiedet. Direkt am ersten Tag hat sie uns ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie war in einem Ghetto und einigen Lagern. B. kann sich jedoch nicht mehr an alle Namen erinnern, da sie von Tag zu Tag gelebt hat und sich gefreut hat, überhaupt zu überleben. Gleich zu Beginn hat sie uns davon erzählt, dass sie sich für den Tod ihrer Schwester verantwortlich fühlt. Sie waren zusammen in Auschwitz und wurden von ihrer ganzen Familie getrennt. Da B. mit 15 Jahren die Ältere war, fühlte sie sich für ihre 13-jährige Schwester verantwortlich. Ihre Schwester war sehr krank und aß kaum noch etwas. B. hat mit Nachdruck versucht ihre Schwester zu überzeugen, dass sie zum Krankentrakt gehen soll. Ihre Schwester wollte sie aber partout nicht verlassen. Irgendwann gab sie aber nach. Noch am selben Tag sah B., wie alle Menschen, die zum Krankentrakt gebracht worden waren, tot auf Karren geladen wurden. Seitdem konnte sie keine Träne mehr vergießen.

Ein anderes Mal fragte sie mich wie jede Woche, wie es mir geht und was ich gemacht habe. Im Juni war »Pride Month«, wo die Rechte und Lebensrealitäten der LGBTQI*Bewegung in Israel thematisiert werden. Ich war mir nicht sicher, ob ich das ansprechen konnte oder ob das Thema zu problematisch werden würde, aber ich wollte es zumindest versuchen. Ich erzählte ihr, dass ich in Tel Aviv und Haifa auf einer Pride-Parade gewesen war. Mit dem Begriff konnte sie zunächst nichts anfangen, aber als ich ihr alles erklärte, verstand sie es. Sie meinte, das sei doch das »Normalischte« auf der Welt. B. erzählte, wie sie sich das erste Mal mit dem Thema Homosexualität auseinandergesetzt hatte. In Bergen-Belsen waren im Nachbartrakt die lesbischen Frauen. Als Kind verstand sie noch nicht ganz, was das bedeutet, aber dort wurde sie aufgeklärt. B. findet es schrecklich, dass es immer noch Diskriminierung von Menschen der queeren Community gibt. Danach haben wir darüber geredet, dass eigentlich alle Menschen, die damals in Konzentrationslagern waren, auch heute noch diskriminiert werden.

Wieder einmal saß ich vor B. und war beeindruckt, wie sie mit 92 Jahren so recht hatte und wie viele Menschen einiges von ihr lernen könnten.

 

Dieser Text ist auch im zeichen 3/21 erschienen. Zum Heft.

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