Im Gespräch mit meiner Freundin Sofiia

© Florian Bachmeier

Interview von Henriette (ASF-Freiwillige in Lwiw 2018/19)


Ich lernte Sofiia 2018 in Lwiw während meines Freiwilligendienstes kennen. Damals
waren wir beide 18 Jahre alt, Sofiia studierte Germanistik an der Iwan-Franko-Universität
und ich versuchte mein Glück beim Russisch lernen, vorwiegend während
der Besuche bei älteren Damen und füllte mein Jahr mit allen Tätigkeiten die im
Hesed Arieh, einem jüdischen sozio-kulturellen Zentrum in Lwiw, anfielen. Seitdem
verbindet uns eine Freundschaft, die zwar in der Pandemiezeit etwas zurückstecken
musste, aber uns nicht abhanden gekommen ist. Gerne erinnere ich mich an die vielen
Stunden, die ich in dem Café verbrachte, in dem Sofiia bis vor kurzem noch gearbeitet
hat. Das Café befindet sich im Zentrum für Stadtgeschichte, in dem sie jetzt die
Koordination für eine Geflüchtetenunterkunft übernommen hat.


Wie hat sich dein Alltag verändert?
Also ich habe einen Job verloren und den anderen habe ich einfach abgegeben, weil
ich gemerkt habe, dass ich das nicht weiter machen kann, weil ich nützlich sein will
und mit Leuten zusammen sein möchte. Entweder, um denen zu helfen, die nach
Lwiw kommen oder mit meinen Freunden Zeit zu verbringen, mit ihnen zu sprechen
und das zu reflektieren, was gerade passiert. Ich habe Medienanalysen bei
deutschen Firmen gemacht, dort arbeite ich jetzt allerhöchstens 10 bis 13 Stunden in
der Woche. Meine Firma wollte, dass mindestens 50% der Mitarbeiter aus der Ukraine
umziehen. Uns wurde eine Unterkunft in Polen angeboten, aber ich wollte das
nicht machen. Ich habe irgendwie verstanden, dass ich hier bleiben muss und will.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wegzugehen. Hier in Lwiw ist es immer noch
ziemlich ruhig. Es kommen viele Menschen aus der Ostukraine und wenn wir hier
aus der Westukraine alle weggehen, wohin sollen diese Menschen dann gehen? Die
meisten von ihnen haben keine Häuser mehr, sie können nirgendwo leben. Und ich
denke, das ist eine Priorität, dass die Leute, die flüchten müssen, ins Ausland gehen
können, wir brauchen das nicht. Und die andere Sache ist, dass ich hier nützlich sein
kann. Ich sehe die Veränderungen in meiner Stadt und ich fühle, dass ich ein Teil der
Geschichte bin. Ich habe sehr viele Leute kennengelernt, die aus der ganzen Ukraine
gekommen sind, und das Verhältnis mit ihnen ist ziemlich warm. Ich denke, dass
sich diese Leute in 10 oder 20 Jahren an mich erinnern werden oder auch diese
kleinen Kinder, die ich hier treffe, die sich schon an mich gewöhnt haben und mich
umarmen, wenn sie mich sehen.


Gibt es noch andere Veränderungen, die du in Lwiw wahrnimmst? Oder von den Leuten, die
in Lwiw leben?

Ich denke ja. In der letzten Zeit kamen nicht mehr so viele Leute wie im ersten und
zweiten Monat, weil ein Teil von ihnen zurück nach Kyjiw gezogen ist. Ansonsten
gibt es ganz viel neues in der Stadt! Viele Künstler haben neue Dinge mitgebracht,
beispielsweise aus Charkiw, welches ja auch ein großes kulturelles Zentrum ist. Und
wenn wir über kleine Sachen sprechen: es gibt ganz viele Tabellen in verschiedenen
Cafés für Leute, die russischsprachig sind und jetzt ukrainisch lernen wollen. Das ist
nicht komisch oder so, das ist wunderbar!
Wenn ich jetzt manchmal in der Tram sitze und höre, dass manche Leute schlecht
über die Flüchtlinge reden: »Oh diese Flüchtlinge, was machen die hier? Die wollen
nicht arbeiten, die wollen hier nur alles umsonst haben!«, dann macht mich das
traurig.
Mir gefällt das Wort Flüchtlinge eigentlich nicht, denn das ist immer noch ihr Land
und diese Stadt kann auch ihnen gehören. Wir müssen lernen, wie wir zusammen
hier wohnen können. Ich glaube, dass viele Menschen in Lwiw bleiben werden,
denn sie haben alles verloren. Ihre Jobs, ihre Häuser, viele Verwandte. Sie haben
nichts mehr im Leben. Ich versuche, zu allen immer ganz warm und freundlich zu
sein. Für mich ist es wichtig, dass alle sehen, dass sie hier willkommen sind und das
sie hier auch zuhause sein können. Das ist jetzt der größte Teil meiner Arbeit.


Wie sieht deine Woche gerade aus, wenn du an deine Arbeit denkst?
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag bin ich fast den ganzen Tag in der Geflüchtetenunterkunft.
Jetzt ist es viel ruhiger als in den ersten zwei Wochen. Damals
haben wir die ganze Zeit Anrufe bekommen von anderen Koordinatoren, die freie
Plätze gesucht haben. Wir nahmen diese Menschen für ein paar Nächte auf, das ging
manchmal nur für drei oder vier Nächte und dann sind sie weitergezogen nach Polen
oder in andere Länder. An manchen Tagen waren 50 Leute bei uns und wir haben
nur eine Dusche und vier Toiletten! Es musste nachts immer jemand da sein,
weil Menschen rund um die Uhr ankamen. Das alles zu organisieren, war wirklich
schwierig. Jetzt sieht es ziemlich ordentlich aus. Es gibt jeden Tag ein gemeinsames
Frühstück und Abendbrot, zum Mittagessen gehen die Bewohner unserer Unterkunft
meistens woanders hin und sie suchen sich irgendeine Tätigkeit. Die meisten
haben auch schon eine Arbeit gefunden.
Aktuell wohnen 20 Leute bei uns, die meisten sind schon über einen Monat hier.
Manchmal ist es wirklich stressig. Wenn Menschen unter solchen Bedingungen unter
einem Dach wohnen, kann es oft zu Konflikten kommen und dann muss jemand
da sein, um den Leuten zu helfen, miteinander zu kommunizieren oder eine gemeinsame
Entscheidung zu treffen. Es gab auch schon Situationen, in denen wir Leute
bitten mussten, zu gehen. Wenn wir diesen Menschen helfen, dann müssen sie auch
auf uns achten. Wir sind eine private Organisation. Niemand hat uns gesagt, dass
wir diese Unterkunft organisieren sollen. Das war die Entscheidung unserer Chefin.
Wir haben hier die Räumlichkeiten, ein Café, Konferenzräume und wir haben uns
dazu entschieden, diesen Platz zu teilen, denn wir haben diese Ressourcen.


Und das findet alles im Zentrum für Stadtgeschichte statt?

Ja, genau.


Kannst du mehr über das Zentrum erzählen?
Das ist eine private Organisation und wurde von einem Historiker, Harald Binder,
gegründet. Es ist nicht nur ein Zentrum für die Geschichte der Stadt Lwiw, sondern
auch für die von Ostgalizien und es kommen viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
zu uns. Wir haben ein großes Medienarchiv, Fotos und Videos, die
vor zwanzig oder dreißig Jahren gemacht wurden. Das alles wird hier gesammelt. Es
gibt verschiedene öffentliche Veranstaltungen, die etwas mit der Geschichte zu tun
haben. Aber nicht nur das, es werden auch wichtige soziale Probleme thematisiert
und wir sprechen über die Zukunft und die Frage, welche Perspektiven es gibt.
Heute hatten wir eine Veranstaltung in unserem Hof, in den wir jetzt ausweichen
müssen. Das ist gerade jetzt im Sommer eine interessante Alternative, denn wenn es
Luftangriffe gibt, haben wir einen sicheren Raum, in dem wir die Veranstaltungen
fortführen können. Bei der heutigen Veranstaltung haben wir z. B. über Kulturerbe
gesprochen. Was ist das überhaupt und wie können wir es bewahren, was ist im Moment
wichtig dafür?


Nochmal zurück zu deiner Woche …
Ah ja! Also am Samstag habe ich normalerweise eine Nachtschicht ab 19:00 Uhr. Die
Dusche ist in unserem Büro, deshalb muss jemand da sein. Manchmal entstehen
Konflikte, die sehr ernst werden können, dann ist es gut, wenn eine neutrale Person
dabei ist und unterstützten kann. Offiziell bleibe ich bis 23:00 Uhr, aber manchmal
auch länger. Es gefällt mir, mit den Leuten zusammen zu sein und mich zu unterhalten.
Dann mache ich einen Tee und wir setzen uns in den Hof. Ansonsten sind unsere
Bewohner total selbständig, sie holen das Frühstück und Abendbrot, das in einer
Freiwilligenküche zubereitet wird […].
Zu uns kommen auch Psychologinnen, die verschiedene Veranstaltungen organisieren
und Privatsitzungen anbieten.


Wie viele Menschen kommen jetzt bei euch an?
Heute war es eine Person, vorgestern waren es drei Personen. Aber wie viele es in
der ganzen Stadt sind, kann ich nicht sagen.


Und weißt du, wie viele Leute in ihre Heimatorte zurückkehren?

Das ist schwierig zu beantworten. Bei uns waren insgesamt 336 Menschen und jetzt
sind es 20. Gleichzeitig waren maximal 50 Menschen bei uns. Ein Teil dieser Leuten
ist zurück nach Kyjiw, ein anderer Teil ist weiter ins Ausland gegangen. Manche haben
Wohnungen in Lwiw oder im Umland gefunden. Es gibt also ganz unterschiedliche
Situationen.


Jetzt blickt sie kurz aus dem Fenster. »Hörst du das?« fragt sie mich und deutet mit ihrem
Zeigefinger nach oben in Richtung des Fensters. »Ist das die Sirene?« frage ich zurück.
»Musst du jetzt in den Keller gehen, soll ich später nochmal anrufen?« »Nein nein«, entgegnet
sie, fast beiläufig. »Wir haben keinen Keller. Es ist einfach wichtig, nicht in der Nähe von
irgendwelchem Glas, also Fensterscheiben zu sein.« Sofiia packt also ihre Sachen zusammen
und setzt sich in den Flur. Alle Türen werden verschlossen, ihre Mitbewohner gesellen sich
dazu, sie machen es sich mit Kissen ein bisschen gemütlich. »Wir können weitermachen.«



Kannst du erzählen, wie du genau vom Beginn der massiven Angriffe am 24. Februar mitbekommen
hast?

Ich war alleine zuhause und es war ziemlich früh am Morgen, als ich aufgewacht
bin. Wenn ich aufwache, schaue ich mir immer zuerst die Nachrichten an und da
habe ich gelesen, dass der Flughafen in Iwano-Frankiwsk, meiner Heimatstadt, bombardiert
wurde. Dann habe ich gesehen, dass ich ganz viele Nachrichten bekommen
habe und dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Ich habe gelesen, was in Kyjiw passiert
ist. Als ich das Fenster öffnete und diese Luftangriffssirenen hörte, wusste ich
einfach nicht, was auf der Straße passiert. Vielleicht sind dort schon irgendwelche
Panzer. Das war wirklich hässlich!
Ich wusste nicht, was ich machen soll, wohin ich gehen soll. Vielleicht zur Arbeit, ich
musste eigentlich arbeiten an diesem Tag. Mit einer Hand habe ich meine Zähne geputzt,
mit der anderen einen Rucksack gepackt. Ich konnte mich nicht auf eine Sache
konzentrieren. Dann hat mich ein Freund angerufen und gesagt: »Sofiia, komm zu
uns!« Und das war wirklich komisch für mich: ich habe nur einen kleinen Rucksack
gepackt mit allen Sachen, die ich wirklich brauche. Alles, was in meiner Wohnung
blieb, das habe ich wirklich gar nicht gebraucht. Zwei Hemden, ein paar Hosen. Ich
hatte viel Angst, weil ich nicht wusste, ob meine Stadt jetzt bombardiert wird. Ich
konnte einfach nicht verstehen, wie dieser Krieg funktionieren soll. Die ganze Nacht
habe ich nicht geschlafen. Ich war mit zwei Freunden im Wohnzimmer und wir hörten
die ganze Nacht Nachrichten.
An die nächsten Tag kann ich mich schon gar nicht mehr richtig erinnern. Ich glaube,
wir haben geholfen, diese Camouflage-Netze zu machen und ich hatte bei einer
Freiwilligenküche beim Verpacken von Lebensmittel für die Armee und die Geflüchteten
geholfen. Fast niemand ist zur Arbeit gegangen, das war alles ganz egal.
Mich hat ein Freund, der sehr aktiv in der Stadt ist, kontaktiert und mir gesagt, dass
sie jetzt eine Unterkunft für Geflüchtete organisieren und das ich helfen kann, wenn
ich möchte. In den ersten zwei Wochen war ich bei zwei von diesen Unterkünften
aktiv, aber habe nur geholfen. Dann habe ich immer mehr Verantwortung und die
Koordination einer Unterkunft übernommen, aber nebenbei noch in der anderen geholfen.
Ich wusste also immer, wie viel Plätze wir haben und konnte Leuten Adressen
vermitteln. Es war so einfacher für mich, überhaupt zu leben, weil ich wusste,
dass ich etwas mache. Ich war den ganzen Tag beschäftigt und hatte gar nicht so viel
Zeit nachzudenken. Das war das Einzige, was mir geholfen hat.


Was siehst du jetzt, wenn du aus deinem Haus gehst?
Ich sehe jetzt wunderschöne Natur und wunderbare Häuser! Alles blüht zur Zeit
und die Bäume riechen so gut! Bei mir gibt es ganz viele Vögel, die singen sehr laut,
besonders am Abend und das gibt mir ein ganz schönes Gefühl, dass ich daheim bin,
dass alles okay ist. Ich meine, wenn ich draußen bin, dann sehe ich Lwiw und ich
verstehe, wie wichtig diese Stadt für mich ist. Hier ist mein Zuhause und manchmal
habe ich das Gefühl, das ich das alles umarmen will! Ich verstehe, wie wichtig dies
für mich ist und dass ich das alles sehr mag. Ich habe angefangen, Dinge mehr zu
schätzen. Viel, viel mehr als vorher.

  • Gefördert vom:
  • im Rahmen des Bundesprogramm
  •  
  •