Schwierige Erinnerung

Wie unterschiedlich in Polen, England, den USA und in Belgien des Ersten Weltkrieges gedacht und an die Opfer erinnert wird, bekommen unsere Freiwilligen hautnah mit. Vier von ihnen geben uns einen Einblick.

Kein großer, ein schrecklicher Krieg

„Der große Krieg“ – so wird der Erste Weltkrieg in Ländern wie Frankreich, England, aber auch in Belgien genannt. Doch mich stört das. Vielleicht hat gerade Belgien noch am meisten Recht, den Ersten Weltkrieg als „groß“ zu empfinden. Angela Merkel sagte am 25. Juni 2014 vor dem Bundestag: „Gerade die Schlachten in Flandern sind so etwas wie ein Sinnbild des technisierten Massenkrieges. “Doch auch in Belgien – jetzt werde ich provokant – lässt sich mit so etwas Geld und Aufmerksamkeit verdienen.

Denn der „große Krieg“ ist wichtig. So wichtig, dass die wichtigste Zeitung ein Buch über den Ersten Weltkrieg für alle Zeitungsleser mitliefert. So wichtig, dass in einer Gedenkstätte für ein ehemaliges SS-Auffanglager eine Ausstellung zum Ersten Weltkrieg eröffnet werden wird, zu der sogar der König kommt, obwohl die Rolle des Ortes – ein Militärfort namens Breendonk – im Ersten Weltkrieg eher marginal war. So wichtig, dass die Privatbank „KBC“ eine kostenlose Ausstellung genau über solche Militärforts in Antwerpen ermöglicht. So wichtig, dass ein „Friedenszentrum“ in derselben Stadt Anfang Oktober eine große Erinnerung veranstaltet – so weit, so gut – nur leider dann unter anderem Kindern anbietet, sich als kleine Soldaten zu verkleiden. Ein bisschen geschmacklos für den „großen Krieg“? Ich kann es verstehen: Belgien sieht auf den Ersten Weltkrieg als ein unschuldiges, neutrales Land. Der Leiter der pädagogischen Abteilung des Museums in Ypern erzählte uns Belgienfreiwilligen, dass alle Kinder dieser Gegend, dem eigentlich verschlafenen Westflandern, immer noch Munition sammeln, die übrig geblieben ist.

Im kleinen Westflandern kann man die unzähligen Weltkriegsfriedhöfe gar nicht übersehen. „Eine halbe Millionen junger Männer starben auf den Schlachtfeldern rund um Ypern”, sagt Angela Merkel, und wiederholt sogar, wirklich betroffen: „Eine halbe Million“. Das ist kein „großer Krieg“ gewesen, sondern ein schrecklicher im kleinen Belgien. Der erste von zweien.

Caspar de Boor, Jahrgang 1994, arbeitet als Freiwilliger in der Nationalen Gedenkstätte in Willebroek in Belgien.

Mahnende Mohnblumen

Jedes Jahr im November kann man in England eine Beobachtung machen. Moderatoren im Fernsehen tragen sie. Promis haben sie sich angesteckt. Und auch auf der Straße fällt sie einem in Knopflöchern oder an Revers auf. Die rote Klatschmohnblume gilt seit 1920 als Symbol des Gedenkens an die Kriegsopfer des Ersten Weltkrieges und wird inzwischen auch als Erinnerung an die Soldaten vergangener und gegenwärtiger Kriege verstanden. Jedes Jahr in der Woche vor dem „Remembrance Sunday“ (Kriegstotengedenktag) werden die roten Papier-„Poppys“ an U-Bahneingängen gegen eine Spende an die Royal British Legion, eine Organisation für Kriegsveteranen, verteilt.

Das stößt bei der Bevölkerung auf Zustimmung und auf Ablehnung. Auch ich habe lange überlegt, bevor ich mir eine Mohnblume angesteckt habe. Ich verstehe die roten Poppys als kleine bewegliche Mahnmale. Sie stehen in Anlehnung an John McCrae's Gedicht „In Flanders Fields“ für die blutgetränkten Felder Flanderns während des Ersten Weltkrieges. Doch manche nutzen sie auch, um den Krieg an sich zu verherrlichen und an Kriegstaten zu erinnern. Mit Erstaunen haben wir England-Freiwilligen diese öffentliche Erinnerungskultur wahrgenommen und darüber diskutiert. Ein typisches Beispiel, um das zu verdeutlichen: Der Channel 4-Moderator Jon Snow weigert sich, die Blume in seiner Sendung zu tragen, weil er prinzipiell überhaupt keine Symbole "on air" bewirbt. Privat trägt er die Blume aber. Nun wird ihm vorgeworfen, den Truppen nicht ausreichend zu danken. Ein BBC-Moderator antwortet ihm sogar: „Wenn es auch nur einen gibt, der nicht dankbar ist, derjenige sollte sich schämen.“

Ist die Mohnblume eine gute Möglichkeit, die Erinnerung an Kriegsopfer wachzuhalten, oder ein Einschnitt in die persönliche Entscheidung, wie und wann man gedenken möchte? Verwickelt sie Menschen über Generationen hinweg in Gespräche oder wirkt sie als inhaltsloser Gruppenzwang, den Jon Snow als „poppyfascism“ brandmarkte? Darauf muss jeder seine persönliche Antwort finden. Man darf nur nicht vergessen, sich das zu fragen.

Melina Stainton, Jahrgang 1995, ist als Freiwillige für das Leo- Baeck-Institut in London tätig.

Nationalstolz

„Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben“ – diese ersten Worte der polnischen Nationalhymne zeigen die bewegte Geschichte eines Landes, das in der Zange europäischer Großmächte immer wieder aufgelöst, geteilt und unterdrückt wurde. Wohl gerade aus diesem Grund scheint der Nationalstolz in Polen größer als in anderen Ländern zu sein. Am polnischen Nationalfeiertag habe ich dies besonders zu spüren bekommen.

Am 11. November wird die Unabhängigkeit Polens von 1918 gefeiert. Die Stimmung auf den Straßen kommt der in Deutschland während der Fußball-WM gleich. Aus den Fenstern hängt die polnische Flagge und die Innenstadt ist ein Meer aus Rot und Weiß. 1918 wurde die die Zweite Republik ausgerufen. Polen war nach Jahren der Besetzung wieder unabhängig. Meine Kollegin sagt, dass die Jahre zwischen den Weltkriegen die Blütezeit Polens waren. Sie kennt viele Lieder, die damals entstanden sind, und kann die meisten Texte noch auswendig. Sie möchte, dass man sich an diese Lieder erinnert. Eine Freundin aus Niederschlesien meint, dass der Erste Weltkrieg jetzt wieder aktuell wird. Viele Polen fürchten nach der Annektierung der Krim eine Besetzung polnischer Gebiete. Die Ukraine-Krise ist auch in unserer Freiwilligengruppe ein großes Thema. Wir sind 16 Freiwillige, acht von uns kommen aus Deutschland, die andere Hälfte aus der Ukraine. Einige haben Verwandte auf der Krim oder in der Ostukraine, die unter der Lage leiden.

Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht von dem aufkeimenden Hass gegen Russland anstecken lassen. Oder von der Stimmungsmache gegen die EU und Amerika. Gerade deswegen ist es gut, dass wir unseren Freiwilligendienst machen. Besser gesagt: unseren Friedensdienst. Die Bezeichnung bringt es auf den Punkt.

Janne Riebesell, Jahrgang 1993, arbeitet als Freiwillige in Krakow mit Menschen mit Behinderungen.

Einer von vielen

In den USA fällt vor allem auf, dass man von einem Erinnerungsjahr an den Ersten Weltkrieg nichts mitbekommt. In den Medien oder in der Gedenklandschaft: Die „Urkatastrophe Europas” findet nur wenig Beachtung. Lediglich als historischer Referenzpunkt zur Ukraine- Krise scheint der Krieg zu taugen. Selbst, dass Präsident Obama im März einen Soldatenfriedhof in Flandern besuchte, war der New York Times nur einen kurzen Artikel wert.

Ich war bestürzt, dass auch die sonst geschichtlich gut geschulten Guides des Museums, in dem ich als Freiwilliger tätig bin, große Mühe hatten, den Ersten Weltkrieg historisch einzuordnen. Doch warum sollte der Erste Weltkrieg für Amerikaner_innen denselben Stellenwert haben wie für uns in Europa? Die USA sind schließlich erst im April 1917 offiziell in den Krieg eingetreten. Erst ab dann wirkte sich der globale Konflikt auf den Alltag der Amerikaner_innen aus: Rationierung, Kriegsproduktion, Einschränkung von Bürgerrechten. Doch für viele blieb er dennoch etwas, dass „over there“ stattfand, wie es in einem bekannten Propagandalied aus dieser Zeit hieß. Eine Ausnahme bildet vielleicht die deutschstämmige Bevölkerung des Landes, die, ähnlich wie politische Dissident_innen, angefeindet und diskriminiert wurden. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit Frankfurter zu Hot Dogs wurden und Sauerkraut kurzerhand in Liberty Cabbage umgetauft wurde. Alles Deutsche stand im Verdacht, im Dienste des Kaisers und seiner „Hunnen“ zu stehen.

Der Zweite Weltkrieg ist für die USA einfach wichtiger, weil er weiter reichende Folgen für Land und Menschen hatte, weil es gegen Deutschland und Japan ging. Es sollte daher nicht verwundern, dass dieser Tage an den D-Day erinnert wird. Man kann von anderen nicht verlangen, dass sie einem historischen Ereignis die gleiche Bedeutung zugestehen, wie man es selbst tut.

Richard-Andre Bachmann, Jahrgang 1987, arbeitet als Freiwilliger im Holocaust Memorial Center in Farmington Hills.

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