Wie keine andere Stadt symbolisiert Verdun den Ersten Weltkrieg mit seiner schrecklichen Vernichtungskraft. Doch heute steht der Name auch für Versöhnung zwischen den alten Feinden, wie die Freiwillige Franziska Gehann berichten kann.
Verdun – 300 Tage und 300 Nächte kämpften die deutsche und die französische Armee auf den Hügeln und in den Wäldern knapp zehn Kilometer vor der Stadt im Nordosten Frankreichs. 700.000 Menschen starben. Es war die längste jemals ausgetragene Schlacht mit den meisten Toten auf engstem Raum in der Geschichte der Menschheit. So viele schreckliche Superlative, die auf erschreckende Weise das totale Wesen dieses Krieges zumindest in Zahlen wiedergeben. „So furchtbar kann nicht einmal die Hölle sein“, sagte ein Augenzeuge. Während der deutsche General Erich von Falkenhayn an dieser Stelle die französische Armee ausbluten wollte, prägte der französische General Petain mit der Parole „Sie werden nicht durchkommen“ den Stellungskampf im Graben.
Doch Verdun, „Blutmühle“ genannt, wurde auch zu einem Symbol deutsch-französischer Versöhnung. Unvergessen ist, wie sich Helmut Kohl und François Mitterrand am 22. September 1982 auf dem riesigen Soldatenfriedhof mit seinen 15.000 Kreuzen die Hand gaben. Doch sie gaben einander nicht einfach nur die Hand. Sie standen nebeneinander, vor ihnen zwei Kränze, dazwischen ein Sarg, behangen mit der deutschen und der französischen Nationalflagge, hinter ihnen die Reihen der Zuschauer. Es war kalt und nieselte, sie trugen Wintermäntel. Als Mitterrand seine Hand ausstreckte, Kohl diese ergriff und sie so vereint vor dem Sarg standen, stand die Zeit still. Das Foto, das diesen Moment festhält, ging um die Welt, der symbolische Wert ist zu vergleichen mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau. „Wir haben uns versöhnt, verständigt, sind Freunde geworden“, ließen Kohl und Mitterrand auf eine Tafel gravieren. Heute, 100 Jahre nach Beginn des Ersten und 74 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, ist die deutsch-französische Freundschaft normal geworden: Arte, der gemeinsame Fernsehsender, das deutsch-französische Jugendwerk, ungezählte Schulaustausche.
Auch bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste engagieren sich seit 1961 Freiwillige in Frankreich. Eine von ihnen ist Franziska Gehann. Die 19-Jährige kommt aus Baden-Württemberg und unterstützt die Arbeit des „Centre Mondial de la Paix“ in Verdun. Das Friedenszentrum zeigt Ausstellungen und bietet Veranstaltungen und Seminare für Schülergruppen an.
Verdun ist sehr ruhig, fast schon verschlafen, vor allem im Winter. Es ist schön, hat alles, was man in einer Kleinstadt braucht, sogar einen Fluss mit Uferpromenade. Dennoch stehen viele Häuser leer, insgesamt leben hier nur knapp 18.000 Einwohner. Zu den ehemaligen Schlachtfeldern, zur Gedenkstätte und dem Beinhaus fahren im Jahr hingegen über 200.000 Leute. Die wenigsten von ihnen biegen in die Stadt ab, was schade ist. Wir könnten mehr Besucher vertragen. Eigentlich ist Verdun eine ganz normale Stadt, und dann wieder auch nicht. Fast alle Häuser wurden durch das deutsche Bombardement zerstört und ab 1920 wieder aufgebaut. Es gibt hier mehrere Gedenkorte, zum Beispiel das sehr imposante Siegesdenkmal. Es finden auch mehrmals im Jahr Zeremonien und Militärparaden statt, Kränze werden niedergelegt, die Leute stecken sich die blaue Kornblume ans Revers, das Wahrzeichen für Frankreichs Kriegstote. Draußen auf den ehemaligen Schlachtfeldern wirkt der Krieg natürlich stärker, obwohl die Ausmaße unvorstellbar sind. Die Knochen und Schädel im Beinhaus zu sehen, zu wissen, dass dort 135.000 Leichen aufbewahrt werden, die vielen Kreuze davor, all das kann die Dimension dieses ersten modernen Krieges nur erahnen lassen. Vor allem im Winter, wenn es richtig kalt ist und ich mir vorstelle, wie die Soldaten hier im Schützengraben lagen, hinterlässt das eine eigene Kälte in mir. Ich arbeite im ehemaligen Bischofspalast, direkt neben der berühmten Kathedrale mit Blick auf Hügel und Gärten. Zurzeit haben wir eine sehr große Ausstellung zum Ersten Weltkrieg.
Ich empfange Besucher, halte Führungen für deutsche Gruppen und organisiere Seminare für Klassen, die gerade einen Schulaustausch machen. Mit denen gehe ich auf den Innenhof. Hier hat ein Künstler eine Installation errichtet, in der in Briefen von deutschen und französischen Soldaten von den Sorgen und Alltagsnöten an der Front berichtet wird. Ich merke, dass den französischen Schülern der Krieg viel präsenter ist, während in Deutschland in der Schule vor allem der Nationalsozialismus behandelt wird. Sie wissen einfach mehr, auch weil die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Frankreich wichtiger ist. Zum Beispiel hatte die französische Armee ein Rotationsprinzip, und so waren fast alle französischen Soldaten in Verdun eingesetzt. Jeder hat die Hölle von Verdun erlebt, eine ganze Nation war davon betroffen. An den Schülern merke ich, dass die deutsch-französische Freundschaft normal und der Krieg ein Ereignis in der Vergangenheit ist. Das ist gut. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht normal war und dass wir mit der Freundschaft verantwortungsvoll umgehen müssen. Deswegen mache ich meinen Freiwilligendienst in Verdun in Frankreich.“
Franziska Gehann, 19 Jahre, Freiwillige im „Centre mondial de la Paix, des Libertés et des Droits de l'Homme“, einem Friedenszentrum in Verdun.
Paul Boelicke, 20-jähriger Theologiestudent, gefallen am 12. Oktober 1918 vor Verdun.
Verdun, ein furchtbares Wort! Unzählige Menschen, jung und hoffnungsvoll, haben hier ihr Leben lassen müssen. Ihre Gebeine verwesen nun irgendwo, zwischen Stellungen, in Massengräbern, auf Friedhöfen. Kommt der Soldat morgens aus seinem Granatloch (viele sind ganz voll Wasser), so sieht er im hellen Sonnenschein die Türme des Douaumont oder eines anderen Forts, die ihre Augen drohend auf das Hinterland richten. Ein Schütteln packt ihn, wenn er seine Blicke rundum schickt: Hier hat der Tod seine Knochensaat ausgesät. Die Front wankt, heute hat der Feind die Höhe, morgen wir, irgendwo ist hier immer verzweifelter Kampf. Mancher, der sich eben noch der warmen Sonne freute, hörte es schon irgendwo brüllen und heulend herankommen. Dahin sind alle Träume von Frieden und Heimat, der Mensch wird zum Wurm und sucht sich das tiefste Loch. Trommelfelder-Schlachtfelder, auf denen nichts zu sehen ist als erstickender Qualm-Gas-Erdklumpen-Fetzen in der Luft, die wild durcheinander wirbeln: das ist Verdun.
Gaston Biron, 30 Jahre alt, verwundet am 8. September, erliegt seinen Verletzungen am 11. September 1916.
„Meine liebe Mutter, vielen Dank für Deinen lieben Brief, den ich vor einigen Tagen erhalten habe. Wir sind immer noch hinter der Linie im Lager von Châlons, wo das Bataillon neu aufgestellt wird. Wir haben diese Ruhe nötig, denn die 15 Tage, die wir in Verdun verbracht haben, die haben uns mehr ermüdet und demoralisiert als sechs Monate Krieg im Schützengraben... An jedem Tag, der vergeht, trifft es einige. Bis heute war der Zufall unserer Familie und besonders mir wohl gesonnen... Von der Vorsehung erbitte ich nur, dass mir diese Gnade gewährt wird: Lieber gleich den Tod als ein schreckliches Leiden, Folge dieser fürchterlichen Verwundungen, deren Zeuge wir alle Tage sind. Dein Dich liebender Sohn Gaston.“