80 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs begann im Oktober 2019 vor dem Landgericht Hamburg der Prozess gegen den ehemaligen Wachmann im Konzentrationslager Stutthof, Bruno D., dem Beihilfe zum Mord an mindestens 5.230 Menschen vorgeworfen wird. Per Hinrichs, der eines der letzten NS-Verfahren in Deutschland als Journalist begleitet, im Gespräch mit Dr. Dagmar Pruin.
Dr. Dagmar Pruin: Welche gesellschaftliche Bedeutung hat in Ihren Augen der Prozess gegen den früheren SS-Wachmann Bruno D., der mit 17 Jahren ins Konzentrationslager Stutthof kam?
Per Hinrichs: Der Prozess ist deswegen von gesellschaftlicher Bedeutung, weil er eine der letzten Gelegenheiten ist, die Geschichten von Überlebenden zu hören, auf die wir in den vergangenen siebzig Jahren nicht genug gehört haben. Und es ist eine der letzten Gelegenheiten, darüber zu sprechen, was jemand getan hat, was er für ein Maß an Schuld oder Verantwortung auf sich geladen hat. Es sind immer zwei Fragen mit den Prozessen gegen mutmaßliche Helfer des Holocaust verknüpft: warum jetzt und warum jetzt noch? Diese Fragen spielen in die frühe Bundesrepublik hinein, wo man solche Prozesse nicht geführt hat. Das war völlig falsch. Man hätte hunderttausende Prozesse führen müssen, die hohe Gefängnisstrafen nach sich gezogen hätten – wenn man die Sicht auf die Aufgaben des Rechts und die Verpflichtungen eines Rechtsstaates zugrunde gelegt hätte, wie wir das heute tun. Die offizielle Aufarbeitung des Holocaust ist damals gescheitert. Dass wir jetzt diese Prozesse führen, ist zugleich Beleg dafür und Ausweis des Scheiterns. Jeder einzelne Prozess zeigt, dass jeder und jede zur Rechenschaft zu ziehen gewesen wäre, der in einem Konzentrationslager Dienst getan hat. Dass diese Prozesse jetzt noch geführt werden, ist dem Engagement eines einzelnen Juristen zu verdanken, nämlich dem 76-jährigen Thomas Walther aus dem Allgäu. Er hat dafür gesorgt, dass die Rechtsprechung auf den Kopf gestellt wurde. Walther war der Wegbereiter für die Prozesse gegen NS-Verbrecher wie John Demjanjuk oder Oskar Gröning, die beide wegen Beihilfe zum Mord in vielen tausend Fällen verurteilt wurden.
Wie erleben Sie den Angeklagten Bruno D. im Gerichtssaal, vor allem in der Begegnung mit Zeitzeug*innen?
Er ist bemerkenswert aufmerksam. Er versteht auch alles und weiß, wer da aussagt. Er kann dem Prozess offenkundig folgen. Bewegend ist es immer, wenn die Überlebenden aussagen. Das sind die besonderen Momente. Die Überlebenden berichten ausführlich, was für ein Schreckensregiment da geherrscht hat. Sie berichten von der Gaskammer, von den Leichenhaufen und sie berichten von all diesen Dingen, von denen der Angeklagte nicht berichten möchte. D. erkennt auch an, dass das schrecklich war. Er sagt nicht, dass das nicht so war. Er sagt nur, er kann sich nicht erinnern. Das sind Momente, in denen ich denke, sag doch, was Du gesehen hast auf dem Wachturm. Du warst nicht blind. Es gibt eine moralische Pflicht derjenigen, die jetzt noch leben, dass sie sagen, was damals passiert ist. Aber selbst das ist wohl zu viel verlangt. Also hören wir das, was passiert ist, von den Überlebenden.
Welchen Blick hat Bruno D. auf sich selbst?
Er stellt sich auf den Standpunkt: Ich habe nichts gemacht. Ich wollte da gar nicht hin. Ich wusste aber auch nicht, wie man da wegkommt. Ich habe widerwillig meinen Dienst getan. Er ist wohl auch nicht freiwillig in die SS eingetreten, sondern wurde gemustert, als er zur Wehrmacht sollte. Das war im Frühjahr 1944. Da wurde er für kriegsdienstuntauglich befunden, weil er angeblich einen Herzfehler hatte – mit dem er ja im Übrigen sehr alt geworden ist. Dann wurde er in die KZ-Wachmannschaft übernommen. Es gab die Möglichkeit für jeden, der es am Wachturm nicht aushielt, sich an die Front versetzen zu lassen. Solche Versetzungsgesuche gab es in Stutthof auch und denen wurde in der Regel auch stattgegeben.
Das heißt, Bruno D. hätte einen Handlungsspielraum gehabt?
Das nimmt die Staatsanwaltschaft an und das hat der Gutachter bejaht. Gleichzeitig kann man aber auch zu seinen Gunsten fragen: Er war 18 Jahre alt, sollte er diese Entscheidung fällen? Konnte man das aus heutiger Perspektive von ihm erwarten? Er war natürlich dabei, er war einer der Helfer oder Helfershelfer des Holocaust und er steht in meinen Augen auch völlig zu Recht vor Gericht. Der Skandal ist, dass sehr viele eben nicht vor Gericht mussten und dass die, die früher vor Gericht standen, aus heutiger Sicht lächerliche Strafen gekriegt haben.
Sie sind vor kurzem nach Norwegen gefahren und haben dort Johan Solberg, den letzten norwegischen Überlebenden aus dem KZ Stutthof, getroffen – welche Rolle spielt für ihn der Prozess?
Für Johan Solberg war die Zeit im Nationalsozialismus natürlich eine prägende Erfahrung. Er war im Gespräch sehr zurückhaltend und hat bewusst nicht alles erzählt, was ihm widerfahren ist. Er war im Widerstand und ist von den Deutschen in Norwegen festgenommen worden und dann von der Gestapo eine Woche lang gefoltert worden. Er war und ist sehr christlich und hat so für sich alles verarbeitet. Im KZ hat er christliche Lieder gesungen und er hat sich sehr stark einen Versöhnungsgedanken zu eigen gemacht. Er will, dass das alles nicht vergessen wird, aber ihm geht es um Versöhnung.
Versöhnung setzt ein Schuldanerkenntnis voraus – wird es so etwas bei Bruno D. geben?
Da bin ich skeptisch. Weil die Übernahme von Verantwortung, egal wie jung man ist, voraussetzt anzuerkennen, dass man mitgemacht hat. Ob er wollte oder nicht: Er war auf der falschen Seite. Er war auf dem Wachturm und er hatte eine Waffe. D. hat sein Leben lang versucht, das zu verdrängen.
Ist denn früher schon gegen D. und andere ermittelt worden?
Er ist mehrfach vernommen worden, zuletzt 1982 – damals hat er in dem Bewusstsein ausgesagt, dass ihm nichts passieren kann, weil er ja nur dumm herumgestanden habe. Das war so möglich, weil der Umschwung in der Rechtsprechung erst viel später mit Thomas Walther kam.
Welche Lehren müssen wir daraus ziehen, was wir in den letzten Prozessen gegen mutmaßliche NS-Täter wie den Wachmann Bruno D. erleben?
Ich bin sehr vorsichtig damit, Bezüge in die Gegenwart oder Zukunft herzustellen. Wir müssen uns aber den Dingen, die damals geschehen sind, stellen und uns mit ihnen auseinandersetzen. Die Frage, wie das passieren konnte, ist nie wirklich beantwortet worden. Je mehr ich mich mit der Geschichte beschäftige, desto drängender wird diese Frage für mich und desto unverständlicher wird es, wie das geschehen konnte. Wie konnten so viele Menschen wegsehen, mitmachen oder davon profitieren? Das ist eine fürchterliche Frage und die sollten wir am Leben halten. Es waren keine Monster, sondern Menschen, die den Holocaust zu verantworten haben. Daran müssen wir erinnern und wir dürfen nicht vergessen, wozu Menschen gerade im Kollektiv fähig sind. Wir dürfen die Geschichten der Entgrenzten, der Entrechteten, der Ermordeten nicht vergessen.
Per Hinrichs hat Geschichte in Hamburg studiert. Von 2002 bis 2009 war er Redakteur beim Spiegel, seit 2009 schreibt er für die Welt, seit 2015 ist er Chefreporter bei Welt am Sonntag. Er begleitet den Prozess gegen Bruno D., der Wachmann im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig war und hat mehrere Interviews mit Holocaust-Überlebenden geführt.
Dr. Dagmar Pruin ist ordinierte Pfarrerin und wurde 2004 an der Humboldt-Universität Berlin promoviert. Sie ist unter anderem Gründungsmitglied des Forschungsbereichs „Religion und Politik" an der Humboldt-Universität. 2007 konzipierte sie das deutsch-amerikanisch-jüdische Begegnungsprogramm Germany Close Up an der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, das sie seither leitet. Von 2013 bis Ende Juli 2020 war Pruin Geschäftsführerin von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.