„Zweierlei Erinnerung“, „Die geteilte Vergangenheit“ oder auch „Keine gemeinsame Erinnerung“, so lauten die Schlagworte, mit denen die geschichtswissenschaftliche Forschung den ost- und westdeutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit gern beschreibt. Denn mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949 und der Deutschen Demokratischen Republik im Oktober desselben Jahres entstanden nicht nur zwei deutsche Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen, sondern sie positionierten sich auch unterschiedlich zu ihrer gemeinsamen Vorgeschichte des Nationalsozialismus.
Die Bundesrepublik verstand sich als Nachfolgestaat des Deutschen Reichs und trat damit dessen Erbe an. Auch wenn die Frage der Schuld vor allem auf Hitler und die NS-Führungseliten projiziert wurde, übernahm sie grundsätzlich die Verantwortung für den Nationalsozialismus. Die DDR dagegen definierte sich als neuen Staat ohne Kontinuität zum „Dritten Reich“ und wies jegliche Verantwortung für die NS-Zeit von sich. Dabei berief sie sich auf den kommunistischen Widerstand gegen die NS-Herrschaft und erhob den Antifaschismus zu ihrem zentralen Gründungsmythos. In diesem „Antifaschismus-Mythos“ wurde auch die eigentliche Kriegsniederlage in einen Sieg umgedeutet, den die kommunistischen Widerstandskämpfer an der Seite der „ruhmreichen Roten Armee“ über das faschistische Regime errungen hätten. Gleichsam die Krönung dieses antifaschistischen Befreiungskampfs bildete die Gründung der DDR, deren Bürger zu „Siegern der Geschichte“ avancierten.
Dieses Narrativ wurde auch jedes Jahr am 8. Mai, dem Jahrestag des Kriegsendes, wirkungsvoll in Szene gesetzt. Das Datum war im ostdeutschen Gedenkkalender fest verankert. 1950 hatte die Volkskammer den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Bis 1967 und noch einmal anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes im Jahr 1985 war dieser arbeitsfrei und wurde mit großen Gedenkfeiern begangen, wie etwa an dem 1949 errichteten Ehrenmal für die sowjetischen Gefallenen im Treptower Park in Ostberlin. Unter Einbeziehung der Parteien und Massenorganisationen wurde das Gedenken propagandistisch inszeniert und zum gesamtgesellschaftlichen Ereignis. Neben der Bedeutung der Roten Armee und des kommunistischen Widerstands für die Befreiung vom „Hitlerfaschismus“ wurden dabei auch die Leistungen der DDR hervorgehoben. Im Gegensatz zur Bundesrepublik habe diese die Lehren aus der Geschichte gezogen und umgesetzt.
Auch in Westdeutschland wurde das Kriegsende-Gedenken dazu genutzt, auf die eigenen Leistungen und die aus der Vergangenheit gezogenen Lehren hinzuweisen. Der 8. Mai war in der Bundesrepublik allerdings kein festes Anniversarium. Gerade auch wegen der Inanspruchnahme durch die DDR war dieses Datum dort lange Jahre kaum von Bedeutung, zumal seine Bewertung durchaus umstritten war. Für viele war der 8. Mai eher ein „Tag der Niederlage“ als ein „Tag der Befreiung“. Mit der Formulierung „erlöst und vernichtet in einem“ versuchte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss im Mai 1949 diese Ambivalenz zu fassen.
Ein langer Weg bis zur Wahrnehmung des 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“
Erst ab Mitte der 1960er Jahre wurde an den Tag des Kriegsendes regelmäßiger erinnert, etwa mit einer Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt 1970 oder einer Gedenkrede des Bundespräsidenten Walter Scheel zum 30. Jahrestag des Kriegsendes 1975. In dieser griff er die Befreiungsdiskussion auf, erinnerte aber auch an die NS-Opfer und mahnte zur kritischen Selbstprüfung. 1985 gelang Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner Gedenkrede dann eine breit rezipierte Klarstellung, dass der 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ zu sehen sei. Er betonte aber auch, dass dieser Tag angesichts des vor und nach 1945 erlittenen Leids kein Tag zum Feiern sei. Die Rede gilt als ein Markstein für den Erinnerungsdiskurs der Bundesrepublik, auch weil der Bundespräsident darin verschiedener NS-Opfergruppen gedachte.
Auf von Weizsäckers Ausführungen griff auch die Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl für ihre Rede zum 8. Mai 1990 zurück. Die Rede, die in die kurze freiheitlich-demokratische Phase der DDR fiel, unterschied sich deutlich von den ostdeutschen Gedenkreden der Vorjahre und machte die Mitverantwortung für den Nationalsozialismus und die „zweite Schuld“ der SED-Diktatur zum Thema. Mit der Erinnerung an das Leid und die NS-Opfer der osteuropäischen Länder und der Sowjetunion enthielt sie typische Elemente des DDR-Gedenkens, sie bezog aber zum Beispiel auch die in der DDR lange Zeit marginalisierten jüdischen Opfer mit ein.
Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 erfolgte im Bereich der Erinnerungskultur ein weitgehender Beitritt von Ost- zu Westdeutschland. Das sich seitdem herausbildende gesamtdeutsche Gedenken fußt vor allem auf dem der alten Bundesrepublik. Nach wie vor wird dem 8. Mai als Gedenkdatum in Ostdeutschland aber höhere Bedeutung zugemessen. So ist dieser in Mecklenburg-Vorpommern seit 2002 und in Brandenburg seit 2015 ein staatlicher Gedenktag. Im Februar 2020 hat mit Bremen nun aber auch ein westdeutsches Bundesland den 8. Mai zu einem offiziellen Gedenktag erklärt. Anlässlich des 75. Jahrestags des Kriegsendes wird er 2020 außerdem einmaliger Feiertag in Berlin sein.
Dr. Katrin Hammerstein ist Historikerin und arbeitet an der Universität Heidelberg und im Landesarchiv Baden-Württemberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus und im Bereich Provenienzforschung. 2017 erschien ihr Buch „Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich“ im Wallstein Verlag.