Schienen und die ehemalige Rampe in Auschwitz ziehen viele Jugendliche an, gelegentlich werden hier auch Selfies gemacht – zu einem Gedenkstättenbesuch sollte eine Einheit gehören, die zeigt, wie man seine Erfahrungen auf Social Media angemessen teilt, dafür plädiert Katarina Bader. Foto: Pixabay
Was hier gepostet wird, kann solide Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht ersetzen, aber zumindest eine sinnvolle Ergänzung sein. Überlebende werden hier stark wahrgenommen, denn ihre Botschaften passen zu Social Media, sie sind klar und menschlich. Und der jüngeren Generation ist das Recht zuzugestehen, selber auszuhandeln, welche Ausdrucksweisen angemessen oder inadäquat sind – sagt die Journalismus-Professorin Katarina Bader im Gespräch mit Ute Brenner.
Ute Brenner: Frau Professor Bader, Sie haben 2010 das Buch „Jureks Erben. Vom Weiterleben nach dem Überleben“ veröffentlicht, in dem Sie von der Begegnung mit dem Auschwitz-Überlebenden Jerzy Hronowski erzählen. Jurek hat sich oft die Frage gestellt, was es nützen soll, wenn er von Auschwitz erzählt, weil er selbst nur einen kleinen Ausschnitt zeigen kann. Dieselbe Frage stellt sich auch, wenn Geschichte – 75 Jahre nach Kriegsende – in Social-Media-Kanälen erzählt wird: Was soll es nützen, in kleinen Häppchen so ein schwieriges Thema wie den Holocaust darzustellen?
Dr. Katarina Bader: Tatsächlich können Sie in Social-Media-Kanälen nur sehr kleine Ausschnitte zeigen. Vor allem beim bei jungen Leuten sehr beliebten Kanal Instagram, aber auch bei Twitter können Sie nur kurze Auszüge erzählen. Allerdings ist es auch so, dass gerade über diese Ausschnitte oft lange nachgedacht wird. Sie können auf Instagram ein sehr dichtes Zitat in Kombination mit einem Bild oder mit einem kurzen Video posten. Das bildet natürlich nicht den Holocaust in seiner Gesamtheit ab, aber ein einzelnes Element kann zum Nachdenken anregen. Ich glaube, dass das in keiner Weise einen soliden Geschichtsunterricht oder einen Gedenkstättenbesuch ersetzen kann. Es kann auch kein Ersatz für eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Thema sein, aber dennoch kann es eine sinnvolle Ergänzung sein.
Sie haben 2018/2019 für die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz ein Social-Media-Projekt gemacht – wie sah das aus?
Die Idee war, dass die Gedenkarbeit in der IJBS Auschwitz, die seit vielen Jahren mit großer Unterstützung von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste geleistet wird, ins Internet verlängert werden sollte. Es ging uns darum, dass die Jugendlichen mit den Themen, die sie während ihres Besuchs in der IJBS diskutieren, in Kontakt bleiben: Auschwitz, der Holocaust, aber auch grundlegende Fragen zu Menschenrechten, Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung – und zwar dadurch, dass sie Follower* innen des Instagram-Kanals der IJBS werden, den wir neu aufgebaut haben. Dadurch, dass die Jugendlichen auf Instagram aktiv sind, werden sie in ihrem eigenen Bekannten- und Freundeskreis zu Botschafter* innen der Begegnungsstätte. Viele der jungen Leute sind sogenannte Mikro- Influencer, die vielleicht ein paar hundert, vielleicht sogar über tausend Follower auf Instagram haben. Wenn diese einen Post der IJBS teilen, dann beschäftigen sich auch wieder andere mit diesem Thema. Dabei ging es uns nicht um Werbung: Die IJBS ist ohnehin meist voll. Es ging um die Inhalte, um die Botschaft.
Jede Generation sucht sich ihren eigenen Zugang zur Geschichte – wie ist Ihre Erfahrung mit ihren Student*innen, die 50 oder 55 Jahre nach Kriegsende geboren wurden: Welche Bedeutung haben da soziale Netzwerke?
Als ich mit Studierenden in der IJBS in Auschwitz war, habe ich gemerkt, dass es das Bedürfnis gibt, auch auf Social Media über das, was man dort erlebt, zu reden. Das ist ein Teil der täglichen Lebenswelt. Zugleich gibt es eine große Angst und Hilflosigkeit, etwas Falsches oder Unpassendes zu sagen. Ansonsten ist der Zugang in meinen studentischen Projekten gar nicht so anders gewesen als zwanzig Jahre zuvor bei mir selbst. Der Ort Auschwitz hat eine große Wirkung und er hat keine kleinere Wirkung, dadurch, dass es nicht die eigenen Großeltern waren, sondern, wenn überhaupt, die Urgroßeltern. Die Wirkung des Ortes ist die gleiche, das Entsetzen darüber, was Menschen anderen Menschen antun können. Bevor ich selbst damals, mit 18 Jahren, zum ersten Mal in der Jugendbegegnungsstätte war, dachte ich: Ich weiß ganz viel über Auschwitz, bin fast übersättigt mit Informationen über die Shoah. Und plötzlich habe ich gemerkt, dass ich eigentlich ganz wenig verstanden hatte, dass ich vieles noch nicht wusste und noch nicht richtig eingeordnet hatte. Das ist bei den Student*innen heute ganz genauso. Der Unterschied bei den jungen Leuten heute ist, dass sie es gewohnt sind, alles, was sie denken, tun oder essen, über Social Media mit einer relativ großen Gruppe von Menschen zu teilen. Und da gab es ein Bedürfnis, das auch vor Ort zu tun.
Oft sind Social-Media-Posts von der Aufmachung her gewöhnungsbedürftig bis grenzwertig. Wenn man zum Beispiel bei Instagram-Storys blinkende Schriften und Emojis einfügt – passt das von der Darstellung her zu einem Thema wie dem Holocaust?
Wir dürfen unsere Ästhetik nicht eins zu eins den Jüngeren überstülpen. Natürlich, wenn da ein Smiley, von mir aus auch weinend, durchs Bild hüpft, finde ich das auch befremdlich und unangemessen, aber wir müssen der Generation die Sprache ein Stück weit überlassen und auch die eigene Aushandlung darüber, was angemessen und unangemessen ist. Solange es keine Verletzung von Menschen darstellt, würde ich nicht zu viele Tabus aufbauen. Ein Grund, warum viele junge Menschen dieses Themas überdrüssig sind, ist deren Gefühl, sie können immer nur alles falsch machen. Weil es eine ständige Angst gibt, dass man gegen irgendetwas verstoßen könnte, und das verhindert eine echte und ehrliche Auseinandersetzung.
Was darf Gedenken in Social Media 75 Jahre nach Kriegsende?
Es gibt diese unguten Beispiele von Selfies von Touristen, die auf den Bahngleisen von Auschwitz balancieren. Man sollte nicht nur sagen, das ist die falsche Art, auf Social Media zu gedenken, sondern zu einem Gedenkstättenbesuch sollte heute auch eine kurze Einheit dazu gehören, die zeigt, wie man diese Erfahrung und seine Gedanken mit Freund*innen auf Social Media auf eine angemessene Art und Weise teilen kann. Das war auch Teil unseres Social- Media-Projekts für die IJBS, sich damit auseinanderzusetzen.
Wie verändert diese Art von Bildern, wie Selfies auf den Bahngleisen, die weltweit im Internet verbreitet werden, die Erinnerungskultur?
Diese Selfies verändern die Erinnerungskultur erstmal gar nicht so sehr. Ich verstehe das Entsetzen über solche Selfies, aber ich glaube, dass man das gleichzeitig nicht so hochhängen sollte. Jurek hat einmal zu mir gesagt: Der Ort Auschwitz macht uns hilflos, Dich macht er genauso hilflos wie diese jungen Leute, die sich da gegenseitig fotografieren und es gibt unterschiedliche Arten, mit der Hilflosigkeit umzugehen. Das fand ich eine kluge Aussage. Es gibt immer wieder große Aufregung über Fehlverhalten wie ein Foto auf den Gleisen. Ein solches Fehlverhalten bringt die Gedenkkultur aber nicht ins Wanken. Ich wünsche mir manchmal, dass man eher positive Wege findet, wie junge Menschen einen Zugang finden können, ihre Gefühle auch auf Social Media auszudrücken, und dass man lieber konstruktiv daran arbeitet, als dass man nur darauf starrt, was alles schiefgehen kann.
Was angemessen ist, wird nie definitiv zu entscheiden sein. Es gab zum Beispiel den Holocaust-Überlebenden, der mit seiner Familie aus Australien an Orten der Vernichtung auf das Lied „I will survive“ getanzt hat. Das war ein viraler Hit bei YouTube. Das war umstritten, aber ich würde mir niemals anmaßen, zu einem Überlebenden zu sagen, Du darfst so nicht gedenken und den Triumph deines Überlebens nicht mit deiner Familie auskosten. Es ist in vielen Fällen immer wieder Aushandlungssache, wo die Grenze verläuft.
Welchen Mehrwert können solche neuen Formen des Gedenkens haben und können sie die Erinnerungskultur positiv voranbringen?
Die Erinnerung funktioniert auf Social Media eher auf der emotionalen als auf der kognitiven Ebene. Aber natürlich kann die emotionale Ebene auch einen Zugang schaffen. Was ich in letzter Zeit sehr stark beobachtet habe, ist, dass die Überlebenden auf Social Media stark wahrgenommen werden, mit ihrer Botschaft, ihrer Interpretation, ihrem Vermächtnis. Das liegt daran, dass das genau zu Social Media passt. Überlebende transportieren eine sehr persönliche, klare und menschliche Botschaft.
Prof. Dr. Katarina Bader lehrt an der Hochschule der Medien in Stuttgart Online-Journalismus. Sie forscht zu Wechselwirkungen zwischen Medien und Politik im Zeitalter des Internets, Journalismus im Wandel sowie zu Desinformation im Internet. 2010 veröffentlichte sie das Buch „Jureks Erben“, eine Biographie des Auschwitz-Überlebenden Jerzy Hronowski. 2017 wurde sie mit dem „Deutsch- Polnischen Journalistenpreis“ ausgezeichnet.
Ute Brenner, Historikerin, Redakteurin und Social-Media-Managerin, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.