Der präzise geplante Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion

Der 22. Juni 1941 teilte das Leben in ein Davor und Danach
Der 22. Juni, der Tag, an dem der Krieg begann, hat sich tief ins Gedächtnis der Menschen der Sowjetunion eingeprägt. Liest man Erinnerungen der Kriegsteilnehmer*innen und spricht man mit den Zeitzeug*innen, so erinnern sich alle an diesen Tag – an den »sonnigen, warmen Sommertag«, an dem sie zur Mittagszeit vom Überfall »aus dem Radio« erfuhren.

Bis heute erinnern sich Menschen an den ersten Artilleriebeschuss und an die Bomben, die bereits am 22. Juni in Minsk, Kiew, Kaunas und anderen Städten einschlugen; sie erinnern sich an den Tag, weil es der Tag war, an dem sie ihren Vater, Mann, Sohn oder Bruder zum letzten Mal lebend sahen – zehn Millionen Männer wurden am nächsten Tag an die Front eingezogen. Dieser Tag bedeutete für die Bürger*innen der Sowjetunion einen tiefen Schnitt, der ihr Leben in ein Davor und in ein Danach teilte.

Diesen Krieg plante die NS-Führung Deutschlands als einen präzedenzlosen Raubund Vernichtungskrieg, bei dem der Tod von Millionen Menschen im Voraus kalkuliert war. In den rassenideologischen Überlegungen wurde ganzen Bevölkerungsgruppen das Recht auf Leben abgesprochen. Für Hitler war der Raum im Osten »wüst und leer«, die Bevölkerung sollte kolonisiert und ausgebeutet werden. Die maximale Ausnutzung der besetzten Gebiete, Vertreibung und Vernichtung der Menschen war ein Teil dieser Lebensraumpolitik. Die radikalen Beutefantasien und der Kampf gegen die »Todfeinde« – die jüdische Bevölkerung und die Bolschewisten – kamen im »Unternehmen Barbarossa« zusammen. Das machte den Vernichtungskrieg zum integralen Teil des Nationalsozialismus.

Bereits beim Angriff auf die Sowjetunion zeigte sich eine enge Verbindung materieller und militärstrategischer Interessen mit Rassismus (Slawenhass), Antisemitismus und Antikommunismus. Im Krieg gegen Polen war die Schwelle zum Vernichtungskrieg schon überschritten, nun brachten die Befehle wie »Kriegsgerichtsbarkeitserlass« und der sogenannte »Kommissarbefehl« gegenüber den deutschen Soldaten unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie mit einer bis dahin ungesehenen Härte im Osten durchgreifen sollten. Plünderung, Vergewaltigung und Mord an den Zivilist*innen wurden nicht geahndet, und durch den Kommissarbefehl wurde der Mord nicht nur an Politoffizieren, sondern generell an Kommunisten und jenen, die als solche galten – in der Praxis lief es auf die Erschießung jüdischer Männer im Spätsommer 1941 hinaus – zur Kriegstaktik.

Was bedeutete dieser Krieg für die Bürger*innen der Sowjetunion? Die Verbindung der Blitzkriegsführung mit extremer Ausbeutung spiegelt sich in der Spezifik der Besatzungsherrschaft wider. Etwa 65 Millionen Bürger*innen erlebten die deutsche Besatzung, das heißt jede*r dritte Bürger*in der Sowjetunion. Die besetzte Gesellschaft bestand mehrheitlich aus Frauen, Kindern und Alten – die meisten wehrfähigen Männer wurden entweder in die Armee eingezogen oder als Facharbeiter und Staatsamtsträger evakuiert. In diesen Menschen sah die deutsche Führung ausschließlich ein »Seuchenund Ernährungsproblem« – wenn sie sich nicht als Arbeitssklaven ausbeuten ließen, waren sie von der Versorgung ausgenommen. Der Staats-sekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, erarbeitete noch vor Kriegsbeginn einen »Backeoder Hunger-Plan«. In der Notiz der Besprechung vom 2. Mai 1941 über das »Unternehmen Barbarossa« hieß es: »Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.«

Die Versorgung der Einheimischen war nicht vorgesehen. Sollten besetzte Gebiete »ohne Bedeutung für die großdeutsche Kriegswirtschaft« sein, waren sie von der Versorgung auszuschließen und ihre Bewohner*innen dem Hungertod auszuliefern. Man ließ Menschen vor allem in den Städten buchstäblich am Hunger sterben. Klar definierte Bevölkerungsgruppen wurden sofort vernichtet: jüdische Menschen, Parteiamtsträger, psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen, Sint*ezze und Rom*nja sowie »Partisanen«. Die Gewalt gegen letztere wurde legitimiert durch die Prävention des vermeintlichen Widerstands: Und als »Partisanenhelfer« wurden während der sogenannten »Sicherung« der Gebiete auch Frauen und Kinder zu Tausenden gequält und ermordet. Der flächendeckende hemmungslose Terror in den Partisanengebieten kostete etwa einer halben Million Menschen das Leben, vor allem in Belarus und im westlichen Teil Russlands.

Auch die Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener gehört zu diesem Verbrechenskonzept. Noch vor dem Krieg erließ die NS-Führung Rahmenerlässe, die völkerrechtliche Normen außer Kraft setzten. Von Beginn an erschossen viele Einheiten der »Heeresgruppe Mitte« sowjetische Soldaten, die sich ergeben oder überlaufen wollten. Ein deutscher Soldat hielt es in seinem Tagebuch fest: »Viele Erschossene, die ich liegen sah, lagen mit erhobenen Händen da und ohne Waffen und sogar ohne Koppel. Mindestens hundert sah ich so liegen. [...] Man hat auch Verwundete erschossen.« Vor allem jüdische Menschen und asiatisch aussehende Rotarmist*innen wurden sofort erschossen. »Frauen in Uniform sind zu erschießen«, diese Anweisung gab der Oberbefehlshaber der 4. Armee, von Kluge, am 29. Juni 1941. Die Rotarmistinnen zogen besonderen Hass auf sich – sie wurden als »Flintenweiber« stigmatisiert, die es zu vernichten galt.

Die Tatsache, dass die gefangen genommenen Soldaten nicht an die Wehrmachtsauskunftsstelle gemeldet wurden, verdeutlicht, dass die überdurchschnittliche Sterblichkeit der Gefangenen ein Teil der Rechnung war. In den Lagern des deutschen Operationsgebietes hatten die Angehörigen der Roten Armee zu verhungern. Von insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind drei Millionen an Hunger und Krankheiten gestorben.

Die sowjetischen Großstädte wurden gezielt bombardiert, und man verschonte weder Zivilbevölkerung noch Bauten, die als Krankenhäuser ausgewiesen waren. Stalingrad, eine Großstadt an der Wolga, wurde vom 23. August 1942 bis zum 14. September 1942 ununterbrochen bombardiert. Allein am ersten Tag des Bombardements, dem 23. August, kamen circa 30.000 Menschen ums Leben. Als die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus der Stadt begann, beschoss die deutsche Artillerie durchgängig die Wolgafähren, sodass Passagierdampfer beschädigt wurden und auf Grund liefen. Die Tatsache, dass die deutsche Luftflotte Evakuierungsschiffe und -Züge mit Zivilist*­ innen bombardierte, zeigt, dass es der Führung nicht um das Erobern, sondern um die Vernichtung ging.

Als zum Beispiel die Bahnhaltestelle Tichvin bei Leningrad am 14. Oktober 1941 bombardiert wurde, wurden drei Züge mit evakuierten Kindern und verletzten Rotarmist*innen zerstört. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. Ein Güterzug transportierte in der Regel etwa 1.500 bis 2.500 Menschen. Die Blockadeüberlebende Raissa Messer erinnerte sich: »Die schwerste Zeit der Evakuierung über den Ladogasee war die Winterzeit 1941–42. Mehrere Male begannen die Deutschen starken Artilleriebeschuss, als das Einsteigen in die Züge oder in die Autos in vollem Gang war. Auf ein kleines Stück Boden, wo die Züge standen, fielen auch mal bis zu zwanzig Splitterbomben.« Die Belagerung Leningrads gilt laut John Barber als »größte demographische Katastrophe, die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit erleben musste«. An Artilleriebeschüssen und Bombardierungen und vor allem an Hunger sollte die Millionenstadt an der Newa, das heutige St. Petersburg, vernichtet werden. Von Anfang an spielte Leningrad eine zentrale Rolle in den Kriegsplänen Hitlers, die Wiege des Bolschewismus sollte als erste russische Großstadt dem Erdboden gleich gemacht werden. Die Weisung, dass die Stadt nicht erobert, sondern abgeschlossen und durch Hunger und Artilleriebeschuss aus der Luft vernichtet werden muss, fiel im September 1941. Eben dies macht das Leningrader Schicksal zum Sonderfall der Geschichte: Die Belagerung der Stadt war nicht auf ihre Einnahme ausgerichtet. Sollte ein Kapitulationsangebot Leningrads erfolgen, so sollte es abgewiesen werden. Die städtische Bevölkerung musste verhungern, die entvölkerte Stadt Finnland übergeben werden. So spielte sich in Leningrad eine der größten humanitären Katastrophen des Zweiten Weltkriegs ab – etwa 1,2 Millionen Leningrader*innen fielen der genozidalen Hunger-Politik der deutschen Kriegsführung zum Opfer.

Eine weitere Struktur des Vernichtungskrieges war die genozidale Gewalt an jüdischen Bürger*innen der Sowjetunion. Die Erschießung der jüdischen Bevölkerung – holocaust by bullets – begann in den ersten Tagen nach dem Überfall auf die Sowjetunion: In der verbrecherischen Ideologie galt es, mit Juden abzurechnen. Dem Mord an jüdischen Menschen in der Sowjetunion – auf dem Gebiet der baltischen Republiken, von Belarus und der Ukraine – fielen über drei Millionen Menschen zum Opfer. Terror und Ermordung der jüdischen Bevölkerung stellten einen zentralen Bestandteil der Blitzkriegsführung dar. Bereits im Herbst 1941 wurde die Schwelle zum systematischen Mord überschritten: Man begann mit der Massenerschießung von Frauen und Kindern, die als »unnütze Esser« galten. In ländlichen Gebieten wurden Exekutionen zur alltäglichen Erscheinung. Vor allem das litauische Judentum war in den ersten Kriegsmonaten vom radikalen Massenmord betroffen: Bis Dezember 1941 wurden 136.000 Menschen vernichtet, es blieben nur jene am Leben, die als Zwangs-arbeiter*innen für die deutschen Betriebe ausgenutzt wurden. Ein Teil ihrer Arbeit war auch die »Spurenbeseitigung« deutscher Verbrechen. Ab Herbst 1943 mussten sie aus den Massengräbern Leichen ausheben und verbrennen. Jene von ihnen, denen eine Flucht gelang, haben uns erschütternde Zeugnisse von diesem »Todesbetrieb« hinterlassen. Alex Fajtelson, ein 19-jähriger Gefangener, schrieb über seine Arbeit im Neunten Fort von Kaunas (Litauen): »Ich wurde in die Gruppe eingeteilt, wo man die Leichen zur Feuerstelle brachte. Mit bloßen Händen musste ich die toten Körper von den »Untersuchern« entgegennehmen, jeweils zwei auf die Tragbahren legen und sie zum Scheiterhaufen transportieren. [...] Als ich mich mit der Tragbahre der beinahe ausgeräumten Grube näherte, blieb ich wie versteinert stehen. Die Toten waren angezogen und sahen aus wie Lebende, die vor Erschöpfung eingeschlafen waren. Es gibt keine Worte, um zu schildern und zu beschreiben, was ich hier erlebte. Ich wußte, dass sich unter den Ermordeten meine Eltern befanden. [...]«

Menschen aus den besetzten Gebieten waren für die deutsche Führung auch »Exportartikel«, die einer »gewinnbringenden Tätigkeit« zugeführt werden sollten. Insgesamt wurden drei Millionen Zivilist*innen – meistens Frauen und Jugendliche – ins Deutsche Reich verschleppt. Seit Sommer 1942 kann man von regelrechten Menschenjagden sprechen. Ins Reich deportiert, wurden sie für die deutsche Kriegsindustrie, bei der Eisenbahn, in den Betrieben und in der Landwirtschaft eingesetzt. Diese Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden schließlich zu den letzten Opfern der NS-Gewalt: Sie starben kurz vor der Befreiung bei den Todesmärschen oder bei Bombardements, weil ihnen der Zugang zu Luftschutzkellern verwehrt wurde.

Die Vernichtung wurde als Handlungskonzept abermals leitend, als die Besatzer ihren »Lebensraum« wieder verließen. Bereits bei den ersten Rückzügen hinterließ die Wehrmacht tote Zonen. 1943 wurde die »Verbrannte Erde« zur Strategie. Laut Hitlers Befehl war ein unbrauchbares, unbewohnbares, wüstes Land zu hinterlassen. Dörfer wurden niedergebrannt, Industrieanlagen zerstört, Brücken gesprengt, Brunnen vergiftet, zivile Infrastruktur zerstört, Böden vermint. Ressourcen, Produkte und Menschen nahmen die Besatzer mit – noch in den letzten Kriegsmonaten mussten die verschleppten Menschen Zwangsarbeit für die deutsche Kriegsindustrie leisten.

Dieser Krieg hat 27 Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben gekostet. In den betroffenen Gesellschaften wirkt der Schmerz, den der Krieg verursachte, bis heute nach.

Dr. Ekaterina Makhotina ist promovierte Osteuropahistorikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Erinnerungskulturen in Russland und in Ostmitteleuropa, Geschichte Litauens im 20. Jahrhundert sowie Sozialgeschichte und Geschichte der Strafpraxis im frühneuzeitlichen Russland. Sie leitete mehrere Projekte zu den unbekannten Orten der NS-Gewalt in Deutschland, vor allem zu den Schicksalen der Zwangs-arbeiter*innen und sowjetischer Kriegsgefangenen. Für ihre wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Arbeit wurde sie 2017 mit dem Preis der Peregrinus-Stiftung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.

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