Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in Belarus

Im Ort der Information des Denkmals für die ermordeten Juden Europas ist ein Raum dem Schicksal von 15 jüdischen Familien in ganz Europa gewidmet. Gleich zwei dieser Familien lebten auf dem Gebiet der heutigen Republik Belarus. Sie lebten keine 120 Kilometer voneinander entfernt, doch unterschiedlicher hätten ihre Lebenswelten kaum sein können.

© Jack Kagan

Das Schicksal des belarussischen Judentums und die Politik der verbrannten Dörfer

Die Familie Kagan lebte in Navahrudak (russisch: Nowogrudok), das zwischen den beiden Weltkriegen Nowogródek hieß und zu Polen gehörte. Navahrudak war ein Shtetl, und in der Erinnerung des Überlebenden Jack (Idel) Kagan (1929–2017) war die Stadt durch und durch jüdisch – obwohl der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Wirklichkeit eher nur die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachte. Die jüdische Gemeinschaft sprach und schrieb jiddisch, lebte größtenteils unter sich, und sie unterhielt ihr eigenes Geflecht an autonomen Institutionen von Schulen bis zu Handelsvereinen. Die plötzliche sowjetische Besatzung im Herbst 1939 war für diese jüdische Welt verheerend. Vielen Familien wurde ihre Existenzgrundlage entzogen, nicht wenige wurden nach Sibirien verschleppt.

Nicht weit entfernt, in Minsk, lebte die Familie Aig. Ihre Lebenswelt war eine gänzlich andere. Minsk war mittlerweile eine durch und durch sowjetische Stadt. Die jüdische Minderheit wurde nicht als religiöse, sondern als ethnische Gruppe behandelt. Das hatte zur Folge, dass die jiddische Sprache und Kultur bis etwa Mitte der 1930er-Jahre zwar aktiv gefördert, die jüdische Religion jedoch unterdrückt wurde. Viele Angehörige der jüdischen Minderheit passten sich an das neue System an und genossen die Aufstiegsmöglichkeiten. Nach dem deutschen Überfall im Sommer 1941 dienten viele jüdische Frauen und Männer aus Minsk in der Roten Armee, manch eine Familie wurde noch rechtzeitig ins Landesinnere der Sowjetunion evakuiert, die Mehrheit blieb jedoch in der Stadt gefangen.

Die ersten Gebiete, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion unter deutsche Besatzung kamen, waren die früheren polnischen Territorien. Bereits in den ersten Tagen des Krieges erschossen deutsche Einheiten vielerorts jüdische Männer, und spätestens seit Ende des Sommers auch Frauen, Kinder und Greise. Dabei machte das Besatzungsregime durchaus einen Unterschied zwischen den beiden Hälften des Landes: Während im Westen die Arbeitsfähigen zunächst am Leben gehalten wurden, galt die jüdische Präsenz im ehemals sowjetischen Teil als »gefährlich« und wurde bereits bis Ende des Jahres 1941 in brutalen Massenerschießungen fast vollständig beseitigt. Eine Ausnahme war zunächst die Stadt Minsk, in der bereits im Juli 1941 Zehntausende jüdische Einwohner*innen der Stadt in ein Ghetto gepfercht worden waren. Ab Herbst wurden Tausende jüdische Kinder, Frauen und Männer aus dem Deutschen Reich direkt dorthin deportiert. Am Ende teilten so gut wie alle Gefangenen des Ghettos das gleiche Schicksal: Sie wurden erschossen oder mittels »Gaswagen« erstickt. Viele von ihnen wurden bei Maly Trostenez, einem der größten Vernichtungsorte in der besetzten Sowjetunion überhaupt, ermordet. Ab Frühjahr 1942 wurden die Deportationszüge aus dem Reich direkt zu dieser Mordstätte am Stadtrand von Minsk umgeleitet. Außer jüdischen Deportierten aus Deutschland, Österreich und dem Protektorat Böhmen und Mähren ermordeten deutsche Einheiten Zehntausende einheimische jüdische und nichtjüdische Zivilist*-innen, Widerstandskämpfer*innen und Partisan*innen, politische Gefangene und Angehörige anderer Opfergruppen an diesem Ort. Ein ähnlicher Ort war Bronnaja Gora, wo die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung von Brest ermordet wurde. Insgesamt wurden etwa eine halbe Million Menschen allein wegen ihrer jüdischen Herkunft auf dem Gebiet der heutigen Republik Belarus ermordet – von Brest bis Witebsk, von Grodno bis Mogilew. Belarus war aber auch das Gebiet, an dem es – geographisch durch die dichten Wälder um Navahrudak und Lida begünstigt – den europaweit intensivsten Widerstand von jüdischen Partisan*innen gab. Der Partisanenverband um die Bielski-Brüder rettete Hunderten von jüdischen Frauen, Männern und Kindern das Leben – eine in der Geschichte der Shoah einmalige Leistung. Und doch blieb, insgesamt gesehen, die Geschichte der Bielski-Gruppe lediglich eine Episode des Partisanenkrieges. Auf dem Gebiet von Belarus wurde dieser so intensiv und erbarmungslos geführt wie sonst nirgends in Europa. Dabei wurden Hunderte Ortschaften einfach ausgelöscht. Die Verbrennung der Dörfer gehört somit zu den Haupttopoi, wenn es um die Erinnerung an die deutsche Besatzung in Belarus geht. Nach offiziellen Angaben wurden während des Zweiten Weltkrieges nicht weniger als 209 Städte und 9.200 Dörfer in Belarus zerstört. 628 Dörfer wurden samt ihrer Einwohner*innen niedergebrannt, 186 davon nicht mehr wiederaufgebaut.

Die »Vergeltungsaktionen« gegen Partisan*innen und die Bevölkerung wurden von den ersten Tagen der deutschen Besatzung an durchgeführt, in enger Kooperation zwischen der Polizei, der SS, dem SD, der Wehrmacht und lokalen Kollaborateuren. Bereits im Juli 1941 wurden Dörfer in und um den Wald von Bialowieza niedergebrannt. Es ging darum, etwaigen Partisanengruppen ihre Rückzugsmöglichkeiten zu nehmen, kommunistische Funktionäre auszuschalten sowie die Bevölkerung insgesamt einzuschüchtern oder zu vertreiben. Bei den Aktionen wurden nicht nur tatsächliche Widerstandsmitglieder oder Widerstandsverdächtige, sondern auch – und vor allem – Zivilist*innen aller Bevölkerungsgruppen, auch der jüdischen, die sich in Wäldern versteckt gehalten hatten oder in den letzten noch erhaltenen Ghettos inhaftiert gewesen waren, massenhaft ermordet. Zigtausende wurden zur Zwangsarbeit verschleppt. Die Einwohner*innen einzelner Dörfer versteckten sich während der deutschen Aktionen in Wäldern und auf Inseln in Sümpfen, wo die Menschen Erdhütten bauten. Deswegen fanden die Täter bei ihren »Vergeltungsaktionen« nicht selten leere Dörfer vor, die dann meist auch niedergebrannt wurden.

Wie die von den »Vergeltungsaktionen« betroffenen Gebiete aussahen, beschreibt eindringlich der Kommissar der Partisanenbrigade »Semjon Korotkin«, A. B. Erdman, in seinem Lagebericht für den belarussischen Stab der Partisanenbewegung für April bis Mai 1944: »Die Deutschen haben die Dörfer Glinischtscha, Tuhotino, Rallja,  Zaljadje, Babowischtschew samt der Bevölkerung verbrannt. Die ganze arbeitsfähige Bevölkerung haben die Deutschen nach Deutschland oder zum Bau neuer Verteidigungslinien verschleppt. Das ganze  Vieh und Geflügel ist konfisziert. In den Dörfern, die noch nicht verbrannt sind, insbesondere denen, die dem Wald am nächsten sind, hört man nicht einmal Hähne krähen.«

Die Schreie der Menschen und die Stille am Ende prägten die Erinnerungen der Überlebenden nach dem Krieg, ebenso wie die traumatische Erinnerung an die ermordeten Familienangehörigen und an die Einwohner*innen der verbrannten Dörfer. Dem Thema der verbrannten Dörfer kam im Land eine besondere Aufmerksamkeit zu, und lange überschattete es die Erinnerung an den Holocaust. 25 Jahre nach dem Ende des Krieges wurde an der Stelle des zerstörten Dorfes Chatyn der zentrale Gedenkort des Landes in Erinnerung an die verbrannten Dörfer eingeweiht. Sichtbare Erinnerung an die ermordete jüdische Bevölkerung gibt es in Belarus – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erst seit dem Ende der Sowjetunion.

Aliaksandr Dalhouski ist Historiker und arbeitet als Referent in der Geschichtswerkstatt Minsk. Er ist zuständig für das Zeitzeugenarchiv der
Minsker Geschichtswerkstatt und für die Begleitung der deutsch-belarussischen Wanderausstellung »Vernichtungsort Malyj Trostenez.
Geschichte und Erinnerung« in Belarus. Zudem forscht er zur Geschichte von Belarus im Zweiten Weltkrieg und nach Tschernobyl sowie zur Umweltgeschichte.

Adam Kerpel-Fronius ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wo er das Projekt
»Gedenkstättenportal« (www.memorialmuseums.org) leitet und sich vor allem mit der Entwicklung europäischer Erinnerungskulturen beschäftigt. Er ist Herausgeber mehrerer Bücher in der Zeitzeugenreihe der Stiftung und Kurator der deutsch-belarussischen Wanderausstellung »Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung«.

  • Gefördert vom:
  • im Rahmen des Bundesprogramm
  •  
  •