Das Wichtigste, was man über die Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg wissen muss, ist, dass die Ukraine ab September 1939 politisch nicht homogen war. Nach dem ukrainischen Unabhängigkeitskrieg (1917-1921) war die ukrainische Bevölkerung politisch in verschiedene Lager geteilt - von Kommunisten über Nationalisten bis hin zu Sozialdemokraten und Zionisten. Dies hatte zur Folge, dass die meisten Familien durch die verschiedenen politischen Zugehörigkeiten ihrer Mitglieder "zersplittert" waren.
Meine Familie war da keine Ausnahme. Im Jahr 1939 lebte ein Teil meiner Familie in Polen und ein anderer Teil in der West- und Zentralukraine. Mein Urgroßvater, Mykhailo Yukhymovich Romanenko, der in der Region Vinnytsia lebte und mit meiner Urgroßmutter, die Jüdin war, verheiratet war, begann seine militärische Karriere 1939 in den Schlachten von Chalkhin Gol, einem lokalen Konflikt zwischen der UdSSR und dem militarisierten Japan. Nachdem die Wehrmacht die Ukraine besetzt hatte, wurde mein Großvater zur Armee eingezogen, geriet um 1943 in Kriegsgefangenschaft und kam in ein Zwangsarbeitslager. Als sowjetische Truppen begannen, Gebiete in der Nähe des Lagers zu befreien, gelang es ihm zu fliehen und sich wieder der sowjetischen Armee anzuschließen. So gehörte er zu den Soldaten, die 1945 in Berlin einmarschierten und halfen, Europa von den grausamen Nazi-Verbrechen zu befreien.
Ganz anders ist die Geschichte meiner Familie, die in der Westukraine lebte. Die meisten Familienmitglieder schlossen sich der nationalistischen Bewegung für die Unabhängigkeit und Befreiung der Ukraine von der sowjetischen und später der deutschen Besatzung an. Der Cousin meines Großvaters wurde nach Sibirien geschickt, wo er irgendwann um 1944 im Gulag starb. Sein Vater, der vom stalinistischen totalitären Regime des Verrats beschuldigt wurde, musste in das besetzte Europa und dann nach Kanada zu fliehen. Das NKVD (das Innenministerium der Sowjetunion) suchte bis zu seinem Tod in den 1980er Jahren nach ihm, und meine Familie stand unter Beobachtung und wurde ständig vom kommunistischen Sicherheitsapparat verhört.
Ähnlich erging es dem Teil meiner Familie, der in Polen, im Kreis Sanok, lebte. Meine schwangere Urgroßmutter und mein Urgroßvater wurden 1944 auf das Gebiet der Ukrainischen SSR in der heutigen Region Volyn zwangsumgesiedelt. Später musste mein Urgroßvater, der damals Mitglied der Ukrainischen Aufständischen Armee war, nach Europa fliehen, wo er vom NKWD getötet wurde.
Leider war meine Familie nicht sehr darauf bedacht, ihre Geschichte zu bewahren. Sie hatte Angst vor der Verfolgung durch die sowjetischen Behörden und vor Anschuldigungen wegen Verrats. Deshalb ist viel verloren gegangen und vieles muss ich selbst aus den Erinnerungsfetzen zusammensuchen, die meine Eltern, ihre Geschwister und meine Großeltern hinterlassen haben. Zu versuchen, endlich ein ganzes Bild aus meiner Familiengeschichte zusammenzusetzen, war die ursprüngliche Intention für meinen Freiwilligendienst in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Jetzt kann ich endlich herausfinden, in welchem Konzentrationslager mein Urgroßvater war, wo mein anderer Urgroßvater getötet wurde, und mehr darüber verstehen, warum alles so passiert ist, wie es passiert ist, und wie man verhindern kann, dass sich die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und totalitärer Regime wiederholen.
Solomiia Romanenko studierte Politikwissenschaft und arbeitete ehrenamtlich für verschiedene Nichtregierungsorganisationen. In diesem Jahr wird sie ihren Freiwilligendienst in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme beginnen.