In Russland gibt es kaum Spielraum für individuelles Gedenken

© Ute Weinmann

Der Sieg der Sowjetunion über den Faschismus wird als identitätsprägend und zentraler Stützpfeiler für den gesellschaftlichen Zusammenhalt inszeniert.

Held*innen hat die russische Geschichte zuhauf hervorgebracht. Meist sind sie männlich und treten nicht nur in Gestalt von Skulpturen und Denkmälern auf, sondern gelegentlich sogar auf Bahnsteige zierenden Plakaten. Das Wirken mancher von ihnen liegt Jahrhunderte zurück, eines der generationenübergreifend prägendsten Ereignisse ist und bleibt jedoch der Zweite Weltkrieg. Weil aber auch hier die Siegerrolle im Fokus staatlicher Erinnerungspolitik steht und der Sieg der Sowjetunion über den Faschismus als identitätsprägend und zentraler Stützpfeiler für den gesellschaftlichen Zusammenhalt inszeniert wird, bleibt die Opferperspektive ein Randphänomen.

Generell existiert im öffentlichen Raum wenig Spielraum für individuelles Gedenken. Wer die offizielle Geschichtsinterpretation an zweifelt oder eine differenziertere Wahrnehmung zur Schau stellt – und sei es nur durch einen Repost, das heißt, durch das Teilen und erneute Veröffentlichen von Inhalten in sozialen Netzwerken zu weiteren Verbreitung – outet sich durch mangelnde Loyalität und gerät zunehmend unter Generalverdacht. Denn wer die Staatsführung für ihr Handeln in der Vergangenheit angreift, richtet seine Kritik gewollt oder ungewollt gegen das Wertesystem der heutigen Regierung. Diese Tendenz zeichnet sich schon länger ab, hat sich in den vergangenen Monaten jedoch deutlich verschärft und beschleunigt. Jede Form des Protestes ist suspekt, weshalb der Staat nicht nur den Handlungsradius nichtstaatlicher Organisationen einschränkt, sondern als Kontrollinstanz auch über historische Dispute wacht.

So wurde Anfang Mai eine Gesetzesinitiative im Parlament zur Diskussion gestellt, die bereits einen Monat später die Abstimmung in dritter Lesung passierte. Das neue Gesetz verbietet die öffentliche – also auch im Internet – Anzweiflung der maßgeblichen Rolle des sowjetischen Volkes bei der Zerschlagung des NS-Regimes und der humanitären Mission der Sowjetunion bei der Befreiung Europas. Sinn und Zweck dieser neuen Regelung besteht nach offizieller Lesart darin, das Andenken an die Verteidiger*innen des Vaterlandes zu bewahren und die historische Wahrheit zu schützen. Bleibt man der eingangs beschriebenen Logik der Siegerperspektive verhaftet, erscheint es nur konsequent, dass der Staat privaten Erinnerungsinitiativen große Aufmerksamkeit schenkt und sie in den offiziellen Veranstaltungskalender integriert. Staatliche Vereinnahmung funktioniert allerdings nur dann, wenn keine eklatanten Widersprüche zur vorherrschenden Geschichtsauslegung zutage treten. Dies trifft nicht allein auf die 2012 entstandene Basisinitiative Unsterbliches Regiment zu, bei der die nachfolgenden Generationen am 9. Mai mit Portraits ihrer im »Großen Vaterländischen Krieg« kämpfenden Angehörigen auf die Straße gehen. Selbst hinsichtlich der Erinnerung an den Gulag – dem stalinistischen System aus Straf- und Arbeitslagern, in dem Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten mussten – wenn beispielsweise Ende Oktober Namen von Opfern der stalinschen Repressionen verlesen werden, übernehmen inzwischen lokale Behörden stellenweise die Regie.

Dem Gedenken an jüdische Opfer während der deutschen Besatzung sind indes Grenzen gesetzt. In den vergangenen Jahren wurden vielerorts auf Treiben engagierter Menschen, wie des passionierten Lokalhistorikers Anatolij Karnauch aus dem Gebiet Stawropol, Gedenksteine aufgestellt. Tatsächlich hat sich der Staat in den vergangenen Jahren dem Thema Holocaust (der Begriff Shoah ist in Russland nicht gebräuchlich) gestellt, nun aber hält ein altes Geschichtsnarrativ wieder Einzug: das Narrativ von Verbrechen gegen friedliche Sowjetbürger*innen, das für die spezifische Ermordung der jüdischen Bevölkerung oder auch Rom*nja keinen Platz mehr bietet.

Ute Weinmann hat Politikwissenschaften studiert und ist seit 1999 Landesbeauftragte von ASF in Moskau

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