Die Schriftstellerin Natascha Wodin wuchs als Kind einer ehemaligen Zwangsarbeiterin und eines ehemaligen Zwangsarbeiters in West-Deutschland auf. In ihren Büchern erzählt sie die Geschichte ihrer Eltern.
Ein Gespräch zwischen Natascha Wodin und Jutta Weduwen
Jutta Weduwen:
Ich habe mit großem Interesse Ihre beiden Bücher über Ihre Eltern gelesen und war an vielen Stellen erschüttert, was Ihren Eltern und vor allem was Ihnen angetan wurde. 2013 stoßen Sie über eine Suchmaschine im Internet auf die Familiengeschichte Ihrer Mutter, die zu dem Zeitpunkt schon fast 60 Jahre nicht mehr lebte. Sie entdecken, dass es in Russland und der Ukraine Verwandte Ihrer Mutter gab, die Sie ein paar Jahre zuvor noch hätten treffen können.
Wie war das damals, als sich Ihnen plötzlich Ihrer mütterlichen Familiengeschichte erschloss?
Wie geht es Ihnen heute damit?
Natascha Wodin:
Dass ich nach so langer Zeit und völlig unerwartet die Familiengeschichte meiner Mutter im Internet fand, war fast so für mich, als hätte ich sie selbst gefunden. Zumindest einen Beweis dafür, dass sie tatsächlich gelebt hat und nicht ein Hirngespinst von mir war. Es war wohl das größte Wunder meines Lebens, eigentlich bis heute unfassbar. Trotz der vielen historischen Gräuel, mit denen ich mich nun beschäftigen musste, war es ein großes Glück für mich, das Buch über meine Mutter zu schreiben. Als Kind hatte ich sie nicht retten können, aber nun war mir, als könnte ich sie wenigstens bergen, indem ich über sie schrieb. Ich konnte ihre Spur bis zu einem Foto verfolgen, auf dem sie ein Kind von etwa acht Jahren ist. Vielleicht habe ich in diesem Kind auch mich selbst gesehen und auch mich selbst aus der Anonymität und Geschichtslosigkeit herausgeholt. Ich hatte ja nie gewusst, wer ich eigentlich bin und wo ich herkomme.
Bis heute freue ich mich darüber, dass ich mit dem Buch so viele Menschen erreichen konnte, dass es in viele Sprachen übersetzt wurde und wird, vor ein paar Tagen ist es in China erschienen. Meine Mutter könnte wohl nur schwer glauben, dass man jetzt dort über ihr Leben liest. Ich hoffe, einen wenigstens klitzekleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass die insgesamt nur wenig bekannte Geschichte der Millionen Zwangsarbeiter ins kollektive Bewusstsein der Deutschen rückt.
Die zuvor privilegierte Familie Ihrer Mutter war von Hungersnot, Armut und stalinistischer Verfolgung betroffen. Ob Ihre Eltern 1944 aus Furcht vor der Vernichtung oder vor der drohenden stalinistischen Säuberung oder durch Verschleppung nach Deutschland kamen, ist unklar. In Leipzig wurden Ihre Eltern im Flick-Konzern in der Rüstungsindustrie als Ostarbeiter*innen ausgebeutet und mussten Rüstung herstellen, die gegen ihre Landsleute eingesetzt wurde. Vermutlich aus Sorge vor erneuter Verfolgung in der Sowjetunion blieben Ihre Eltern dann nach Ende des Krieges in Deutschland. Auf wen sind Sie wütend, über was sind Sie verzweifelt, wenn Sie sich Ihre Familiengeschichte vergegenwärtigen?
Was mich wütend und verzweifelt macht, ist vor allem das Schweigen, das Verschweigen und Verdrängen, die Fälschung der Wirklichkeit. Ich habe als Kind diese Fälschung immer gespürt, die ständige Lüge, das doppelte Schweigen, das meiner Eltern und das meiner deutschen Umwelt. Es ging eine dämonische Macht von diesem Schweigen aus, da war immer eine unsichtbare, namenlose Bedrohung, der ich mich ausgesetzt fühlte. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, weil ich ja als Kind nicht wusste, worüber meine Eltern und die Deutschen schwiegen, ich wusste nur, dass es zwei verschiedene Dinge waren und in beiden Fällen etwas zutiefst Schreckliches. Am Ende dieses Schweigens stand der Selbstmord meiner Mutter, in Russland, wo bis heute nicht über die Vergangenheit gesprochen wird, führte das von Generation zu Generation weitergegebene Schweigen meiner Vorfahren in einen Muttermord. Ein Kind aus dem Lager, in dem wir in Deutschland wohnten, wurde von deutschen Kindern verfolgt und in einen Fluss gestoßen, in dem es ertrank. Die Eltern hatten ebenfalls geschwiegen und nur ihren Hass gegen die Russen, die Siegermacht, an ihre Kinder weitergegeben.
Sehr traurig finde ich es auch, dass meine Mutter so völlig allein und aufgeschmissen war, dass sie keinerlei Hilfe bekam. Zweifellos litt sie an dem, was man heute eine posttraumatische Belastungsstörung nennt, in der heutigen Zeit hätte man ihr helfen können, es hätte vielleicht schon ein einziger Mensch gereicht, der ihr zugehört und sie verstanden hätte. Aber es gab einfach niemanden, sie hatte nur ihre zwei kleinen Kinder. Es erscheint mir symptomatisch, dass sie am Ende ihres Lebens ganz verstummt war.
Sie wurden Ende 1945 geboren, bei Kriegsende war Ihre Mutter im dritten Monat schwanger. Viele Zwangsarbeiterinnen wurden zu einer Abtreibung gezwungen oder die Kinder wurden ihnen weggenommen, viele starben. Sie schreiben, dass Ihr Leben wahrscheinlich auch davon abhing, dass die Schwangerschaft nicht vor der Befreiung des Lagers entdeckt wurde. Ihre Eltern verschlug es dann nach Franken. Haben Sie verstanden, warum Sie in den ersten fünf Jahren Ihres Lebens in einem Lagerschuppen, dann in einem Camp für Displaced Persons aufwuchsen?
Nein, natürlich nicht. Irgendwann begann ich zwar zu begreifen, dass es außerhalb des Fabrikhofs, auf dem unser Lagerschuppen stand, noch eine andere Welt gab, ich hatte als Kind nachts Angst vor den Schritten draußen vor unserem Schuppen, vor den Taschenlampen, die uns ins Fenster leuchteten, aber ich verstand natürlich nicht, was vor sich ging. Das Walka-Lager, in dem wir später wohnten, war eine in sich geschlossene, hermetisch abgeriegelte Welt, in der ich die deutsche Umwelt gar nicht wahrnahm, ich glaube, ich wusste gar nicht mehr, dass sie existierte. Erst später, als man uns in eine Siedlung für ehemalige Displaced Persons brachte und ich in die deutsche Schule ging, wurde mir klar, dass es uns und die Deutschen gab, dass uns irgendeine negative Besonderheit auszeichnete, die in unserem Russischsein bestand. Aber das Verstehen kam erst sehr viel später. Ich verdanke es vor allem der 68er Generation, die hat mich überhaupt erst einmal darüber aufgeklärt, dass nicht die Russen mit dem Krieg begonnen und Deutschland überfallen hatten, sondern dass es umgekehrt war. Das war mir völlig neu, und es dauerte eine Weile, bis ich das glauben konnte.
Ihre Mutter hat sich das Leben genommen als Sie zehn Jahre alt waren. Danach kamen Sie in ein Heim. Ihr Alltag war von Armut, Verzweiflung, Traurigkeit, Sprachlosigkeit und Gewalt geprägt. Sie schreiben: „Immer, seit ich denken kann, war es ein Fluch für mich gewesen, das Kind meiner Eltern zu sein“. Wie konnten Sie Verständnis für die Situation Ihrer Eltern entwickeln, das sich ja auch in Ihren Büchern ausdrückt?
Es dauerte lange Zeit, bis ich zu begreifen begann, was meine Eltern erlebt hatten. Sie kannten beide wohl kaum etwas anderes als Gewalt. Sie waren beide völlig gebrochene, zerrüttete Menschen. Das zu verstehen war nicht schwer, nachdem ich Geschichtsbücher gelesen hatte.
Trotz der Gewalt und Kontrolle, die Sie von Ihrem Vater erfahren haben, trotz seiner Verschlossenheit, besuchten Sie ihn im Alter sehr treu und regelmäßig im Altenheim, obwohl von ihm kaum Reaktionen kamen. Wie haben Sie es geschafft, ein Buch über Ihren Vater zu schreiben?
Das zu schreiben war sehr viel schwieriger als das Buch über meine Mutter. Einmal deshalb, weil ich sehr viel weniger Material über meinen Vater hatte als über meine Mutter, und zum zweiten, weil ich mich ihm eigentlich nie wirklich nähern wollte. Ich hielt es nur für meine Pflicht, den Versuch zu machen, ihn zu verstehen. Aber ich glaube, es ist mir nicht wirklich gelungen. Obwohl es im Großen und Ganzen nicht schwer ist, einen Menschen wie ihn zu verstehen. Ich würde in diesem Fall die biblischen Worte umdrehen: Wer Gewalt erntet, der wird Gewalt säen. So viele Menschen ernten ja Gewalt, die sie nicht selbst gesät haben. Und ihr eigener Weg in die Gewalt ist dann wohl meistens vorgezeichnet.
Hat sich Ihr Vater mal entschuldigt?
Nein. Er schrieb es seiner Erziehung zu, dass seine Töchter so weit gekommen waren, dass die eine Opernsängerin, die andere Schriftstellerin geworden war.
Wie und wann haben Sie das Schreiben als Ausdrucksmittel für Ihr Leben entdeckt?
Schon sehr früh. Da ich ein sehr einsames Kind war und auch keine Freundin hatte, der ich von mir erzählen konnte, habe ich schon sehr früh angefangen, Geschichten zu erfinden und aufzuschreiben, die schöner waren als meine eigene. Später habe ich exzessiv Tagebuch geführt. Das Tagebuch war mein Gesprächspartner, der Ort, wo ich alles lassen konnte, was mich bewegte. Und ich merkte schon sehr bald, dass das, was ich in Worte fassen konnte, einen Teil seiner Bedrohung verlor. Man konnte die Gefahr mit Worten bannen. Das Chaos bekam eine Struktur, eine Form. Ich weiß nicht, wo ich heute wäre und ob überhaupt noch, wenn ich die Magie der Worte nicht entdeckt hätte.
In Deutschland gab und gibt es ein spätes und mangelndes Bewusstsein über das verheerende Schicksal der Zwangsarbeiter*innen. Sie sind in Ihrer Jugend vor allem mit Hass gegenüber Russ*innen aufgewachsen, der sich genauso gegen alle Menschen und ihre Nachkommen richtete, die aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion kamen. Wann haben Sie persönlich zum ersten Mal von „Zwangsarbeit“ gehört?
Ich erinnere mich nicht genau. Es könnte sein, dass es in den siebziger Jahren war, als mir ein befreundeter Übersetzer aus dem Buch eines russischen Zwangsarbeiters vorlas, das er ins Deutsche übersetzt hatte („Zum Unterschied ein Zeichen“ von Vitalij Semin, übersetzt von Alexander Kämpfe, das einzige mir bekannte Buch eines Zwangsarbeiters überhaupt). Ich bin damals aber nicht auf die Idee gekommen, dass meine Eltern das Schicksal von Vitalij Semin teilten. Sie sagten von sich ja immer, sie seien Emigranten, die vor dem Stalinregime geflohen waren. Letztlich habe ich es verstanden, als ich wieder mal die Arbeitskarten meiner Eltern in der Hand hielt, die ich schon oft vorher betrachtet hatte, ohne zu wissen, was ich sah. Aber erst im Lauf der Recherche für das Buch „Sie kam aus Mariupol“ wurde mir das ganze Ausmaß der Zwangsarbeit klar. Einmal, schon vor langer Zeit, habe ich auch eine Ausstellung über den Holocaust gesehen, und eine kleine Nebenabteilung der Ausstellung war der Zwangsarbeit gewidmet. Da fragte ich mich zum ersten Mal, ob die Zwangsarbeit womöglich sogar im weitesten Sinn mit dem Holocaust verwandt war. Da wusste ich noch nicht, dass es zu Hitlers Kriegsprogramm gehört hatte, die Slawen drastisch zu dezimieren, um Lebensraum für die arische Herrenrasse zu schaffen, und nur die übrig zu lassen, die zur Germanisierung geeignet schienen oder den Deutschen als Domestiken dienen sollten.
Wann hat sich Ihnen erschlossen, dass „Zwangsarbeit“ kein Makel Ihrer Eltern ist, sondern ein System der Verfolgung, Ausbeutung und oftmals Vernichtung?
Als Makel habe ich die Zwangsarbeit meiner Eltern nie empfunden. Ich wusste ja, wie schon gesagt, die längste Zeit nichts davon. Der Makel meiner Eltern bestand darin, dass sie Russen waren (Ukrainer zählten ja auch als solche, wie die Bewohner aller Sowjetrepubliken). Auf der Stirn meiner Eltern stand „RUSSE“ geschrieben, und das war das Schlimmste, was man sein konnte. Barbaren, Untermenschen, Mörder, Antichristen, Kommunisten etc. etc. Als mir bewusst wurde, dass meine Eltern Zwangsarbeiter waren, war ich schon informiert genug, um das historisch einordnen zu können.
Sie sprachen von einem doppelten Schweigen, mit dem Sie aufwuchsen. Das Schweigen Ihrer Eltern und das Schweigen der Deutschen im Nachkriegsdeutschland. Wie erleben Sie heute in Deutschland die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit?
Im Gegensatz zu anderen Ländern, Russland zum Beispiel, finde ich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Deutschland beispielhaft und bewundernswert. Das betrifft in erster Linie den Holocaust, die industrielle Vernichtung der Juden, die zweifellos das unfasslichste Verbrechen der Nazis war. Die Beschäftigung mit dem Vernichtungskrieg in der Sowjetunion hingegen scheint mir etwas zu kurz zu kommen, darüber höre ich wenig in den Medien. Obwohl in diesem Krieg immerhin annähernd 30.000 Millionen Menschen in der Sowjetunion umgekommen sind. Das Land wurde auf brutalste Weise verwüstet und brauchte sehr lange Zeit, um wieder halbwegs auf die Beine zu kommen. Darüber wird wenig gesprochen, die schlechte Versorgungslage in der Sowjetunion wurde lange Zeit ausschließlich dem kommunistischen System angelastet. Das alles ist meines Wissens noch bei weitem nicht erforscht und historisch eingeordnet. Siebzig Jahre nach diesem Vernichtungskrieg blickt Deutschland wieder mit einer Arroganz und Selbstgerechtigkeit nach Russland, die mich empört.
Ich wünsche mir eine Erinnerungskultur, die in die Gegenwart der deutsch-russischen Beziehungen wirkt. Deutschland sollte wenigstens hin und wieder ein wenig Demut erkennen lassen, wenigstens hin und wieder signalisieren, dass noch nicht alles vergessen ist, was die Nazis dort angerichtet haben. Man muss sich dessen bewusst sein, dass ein Vernichtungskrieg, wie er gegen die Sowjetunion geführt wurde, dem Land eine Geschichte aufgezwungen hat, die bis heute die Gegenwart mitprägt.
Wie erleben Sie die Auseinandersetzung mit der Verantwortung gegenüber Zwangsarbeiter*innen und ihren Nachkommen?
Ich habe im Lauf meiner häufigen Lesereisen viele kleine, meist private Initiativen kennengelernt, die sehr ehrenvolle Erinnerungsarbeit leisten. Nicht von oben verordnet, sondern aus eigener Betroffenheit. Sie forschen, erschaffen Gedenkorte, oft nach jahrelangen Kämpfen mit den Behörden. Das ist sehr hoch einzuschätzen. Ich weiß auch, dass es die „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gibt, ich weiß, dass es die Aktion Sühnezeichen gibt. Trotzdem ist nach meinem Eindruck das Thema der Zwangsarbeit nach wie vor verschattet vom Holocaust, es hat noch keinen breiten Eingang in das kollektive Bewusstsein der Deutschen gefunden. Vielleicht habe ich etwas übersehen, aber die Nachfahren der Zwangsarbeiter sind mir als Thema überhaupt noch nicht begegnet.
Haben Sie das Gefühl, dass Ihre besondere Geschichte in Deutschland anerkannt wird, also nicht nur das Schicksal Ihrer Eltern, sondern auch Ihre Geschichte als Angehörige der zweiten Generation der Zwangsarbeiter*innen?
Das ist eine schwierige Frage. Mit dem Buch „Sie kam aus Mariupol“ habe ich sehr viele Leser erreichen können, ich habe sehr viel Aufmerksamkeit für die Geschichte meiner Eltern und auch für meine eigene bekommen, sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Empathie als ich je erwartet hatte. Aber davor hielt ich mich eher in einer Art Niemandsland auf. Nein, abgesehen von meinen privaten Freunden hat sich nie jemand für die Geschichte meiner Eltern interessiert und auch nicht für die Folgen, die diese Geschichte für mich hatte. Ich habe lange Zeit ein Leben in völliger Isolation gelebt, gelähmt von einer Außenweltangst, die ich nur nach und nach mit meiner Vorgeschichte in Verbindung bringen konnte. Ich kenne auch ein paar andere Kinder von Zwangsarbeitern, die stark beschädigt sind von ihrer Vorgeschichte und diese Beschädigung wiederum an ihre Kinder weitergeben. Wenn Zwangsarbeiter noch so halbwegs als Opfer anerkannt werden, so gibt es meines Wissens so gut wie kein Bewusstsein für die Problematik ihrer Nachfahren.
Haben Sie Kontakt zu Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben? Gibt es in Deutschland Gruppen von Nachkommen von Zwangsarbeiter*innen? Ist es für Sie hilfreich, sich mit Menschen mit ähnlichem Schicksal auszutauschen?
Von Gruppen habe ich noch nie gehört. Auf meinen Lesungen bin ich immer wieder einzelnen „Schicksalsgefährten“ begegnet, nicht wenige haben mir geschrieben. Aber abgesehen davon, dass alle zerstreut leben, gibt es, glaube ich, auch keinen besonderen Wunsch, sich zu solidarisieren. Bei vielen herrscht noch Scham vor, Kind von Zwangsarbeitern gewesen zu sein, ausgestoßen aus der deutschen Gesellschaft, jeder hat seinen ganz eigenen, besonderen Weg in die deutsche Gesellschaft gefunden, wenn überhaupt. Manche sind auch auf die „schiefe Bahn“ geraten. Ich glaube, vielen Kindern von Zwangsarbeiten geht es ähnlich wie ihren Eltern: auch sie wollen vergessen, nicht drüber reden, ein ganz normales Leben ohne bedrohliche Schatten leben. Ich bin auch ein paar Nachkommen von Zwangsarbeitern begegnet, die psychisch so beschädigt sind, dass Kommunikation mit ihnen kaum möglich ist. Das galt lange Zeit auch für mich selbst.
Mit Ihren beiden Büchern über Ihre Mutter und Ihren Vater haben Sie einen literarischen und biografischen Beitrag zum Schicksal von Zwangsarbeiter*innen und ihren Nachkommen geschrieben, der besonders das Leben vor der Deportation nach Deutschland und das Leben nach 1945 beleuchtet. Was hat sich für Sie persönlich dadurch verändert, dass Sie den Literaturpreis erhalten haben und Ihre Familiengeschichte bekannt wurde und in den Feuilletons besprochen wurde?
Es hat sich sehr viel verändert. Ich habe bis dahin mehr am Rand des Literaturbetriebs gearbeitet, über Nacht war ich eine sogenannte Bestsellerautorin geworden. Nachdem ich vorher die meisten Lesungen aus Publikumsscheu abgelehnt hatte, war ich auf einmal fast nur noch unterwegs, von einem Lesungsort zum nächsten. Ich habe ein Interview nach dem andern gegeben. Einerseits war das beglückend und berauschend, andererseits gehörte ich mir nicht mehr selbst, ich erfüllte nur noch Pflichten. Aber ich bin sehr froh darüber, dass ich mit so vielen Menschen in Kontakt gekommen bin, die – sehr überraschend für mich – großen Anteil an der Geschichte meiner Eltern nahmen. Diese Geschichte ist nicht im Acheron verschwunden, wie zahllose andere, ich konnte sie in die Welt bringen. Und nicht zuletzt habe ich mir durch das Buch über meine Mutter eine Altersrente verdient. Es ist ein bisschen so, als hätte meine Mutter, die mir nicht das geben konnte, was ich als Kind brauchte, nachträglich ein Füllhorn über mir ausgeschüttet.
Neben aller Tristesse und Gewalt verband Ihre Eltern die Schönheit ihrer Stimmen und ihres Gesangs. Sie sangen und summten allein oder gemeinsam mit Ihnen und Ihrer Schwester russische Lieder. Singen Sie heute noch?
Ja, ich singe wieder. Nachdem ich jahrzehntelang nicht gesungen habe. Als Kind habe ich nicht verstanden und auch darunter gelitten, dass in Deutschland nirgends gesungen wurde (es sei denn in der Schule, auf Veranstaltungen oder im Radio). Ich hatte das Singen schon fast vergessen, aber jetzt singe ich mit meinem Altersgefährten, der die russische Musik und auch die Volklieder und Romanzen sehr liebt und auswendig lernt. Für andere wäre es wahrscheinlich kein großes Vergnügen, uns und unseren verrosteten Stimmen zuzuhören, aber wir sind glücklich, wenn wir singen.
Hatten Sie vor unserem Interview schon einmal von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste gehört? Wie finden Sie unsere Arbeit? Erschließt es sich Ihnen, dass junge Menschen aus Deutschland in Ländern der ehemaligen Sowjetunion unter anderem ehemalige Zwangsarbeiter*innen unterstützen und dass junge Menschen aus Belarus, Russland und der Ukraine in Deutschland einen Freiwilligendienst machen und zum Beispiel in Gedenkstätten arbeiten?
Ich kannte natürlich den Namen Ihrer Organisation, aber ich gestehe, dass ich bisher nicht viel über Ihre Arbeit gehört habe. Ich finde es großartig, dass über das Schuldbekenntnis hinaus tätige Hilfe an Ort und Stelle geleistet wird. Dass nicht nur geredet, sondern auch etwas getan wird. Dass junge Menschen aus Osteuropa zu uns kommen und freiwillig in Gedenkstätten arbeiten. Das ist friedensstiftend, und ich denke, für alle Beteiligten äußerst lehrreich und sicher auch beglückend. Es wäre ein großartiger Beitrag zur Weltgemeinschaft, wenn Organisationen wie die Ihre auf dem ganzen Erdball tätig wären. Meine Hochachtung für die freiwilligen Helfer.
Was beschäftigt Sie aktuell? Woran schreiben Sie gerade?
Ich habe gerade einen Roman abgeschlossen, der „Nastjas Tränen“ heißt und im August bei Rowohlt erscheinen wird (die Geschichte einer Ukrainerin im Deutschland der Nachwendezeit). Jetzt muss ich mich mit meinem Archiv beschäftigen. Beschriftetes Papier aus etwa 60 Jahren. Ich bräuchte eigentlich ein zweites Leben, um das alles zu sichten.
Natascha Wodin wurde 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter*innen in Fürth/Bayern geboren. In den Büchern „Sie kam aus Mariupol“ und „Irgendwo in diesem Dunkel“ setzt sie sich mit der Geschichte ihrer Eltern auseinander. Sie ist unter anderem Trägerin des Preises der Leipziger Buchmesse. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin und Mecklenburg.
Jutta Weduwen ist seit 2012 ASF-Geschäftsführerin. Sie ist unter anderem Mitglied im Sprecher*innenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus (BAG K+R) und im Vorstand der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF).