Der 1990 beschlossenen Öffnung unseres Landes für jüdische Zuwander*innen verdanken wir heute lebendiges jüdisches Leben in Deutschland. Als dieser Tage im Beisein von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble »30 Jahre jüdische Zuwanderung« gefeiert wurden, unterlief dem gastgebenden Antisemitismusbeauftragen in der Einladung ein kleiner Fehler. Die Zuwanderung begann 1990, also vor 31 Jahren. Ein Flüchtigkeitsfehler? Jedenfalls wird so der historische Anlass vergessen, bestenfalls zur Vorgeschichte.
Nach der offiziellen Lesart fängt die jüdische Zuwanderung 1991 an. Ein Beispiel dafür findet man in dem Aufsatz »Flucht und Asyl seit 1990« von Klaus Bade und Jochen Oltner: »Die Aufnahme russischer Juden als Kontingentflüchtlinge [...] begann in der Zeit der Agonie der DDR [...]. In dieser postrevolutionären Zwischenzeit [...] erklärten sich 1990 die von der antizionistischen SED-Doktrin abgerückten Fraktionen der DDR-Volkskammer in einer gemeinsamen Erklärung bereit, ›verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren‹, was der DDR-Ministerrat im Juli 1990 bestätigte.«
Streng genommen stimmt daran eigentlich fast alles nicht: Die DDR hat 1990 nicht »russische Juden« aufgenommen. Es waren sowjetische, also auch ukrainische, belarussische und andere. Von »Kontingentflüchtlingen« war erst 1991 im vereinten Deutschland die Rede. Die Einordnung der Entscheidung von 1990 ist auch bemerkenswert. Wer sagt, sie sei in einer »Zeit der Agonie der DDR« erfolgt, also ein letzter Akt des untergehenden Staates, will sagen: Das hatte keine Zukunft. Wer 1990 als eine Zeit erlebt hat, in der etwas Neues begann, sieht es anders. Für die frei gewählten Abgeordneten der Volkskammer war es im Hinblick auf die deutsche Einheit an der Zeit, eine Erklärung über die »Verantwortung der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte und ihre Zukunft« abzugeben. Sie richtete sich zuerst an die jüdische Bevölkerung in aller Welt. Sie bekannte sich zur Mitverantwortung für den Holocaust. Und sie gab eine konkrete Antwort auf den damals wiederauflebenden Antisemitismus: die unbeschränkte Aufnahme für »verfolgte Juden«.
Dieser vermeintlich letzte Akt der »postrevolutionären Zwischenzeit« wurde vom DDR-Ministerrat nicht »bestätigt«, sondern umgesetzt. Von April bis Oktober 1990 meldeten sich circa 8.500 jüdische Einwander*innen in der DDR. Die von der DDR praktizierte Regelung wurde von der Bundesregierung aber nicht anerkannt. Sie forderte deren Rücknahme, auch unter Hinweis auf Einsprüche Israels, das sich als Heimstatt für alle jüdischen Menschen versteht. Im Einigungsvertrag wurde trotz Forderungen aus der Volkskammer keine Anschlussregelung getroffen. Da die Bundesrepublik damals kein Einwanderungsrecht kannte – außer für Deutschstämmige – gab es bis April 1991 keine gesicherte Rechtslage. Um Abschiebungen zu vermeiden, wurden vierteljährlich die Bleibefristen verlängert. Mit dem Einsatz von Heinz Galinski, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, gelang es, eine Rechtsgrundlage zu konstruieren. Die hieß »Kontingentflüchtlinge«. Das sind Flüchtlinge, die in festgelegter Anzahl (Kontingent) einwandern dürfen. 1985 wurde sie für 30.000 vietnamesische Bootsflüchtlinge in der Bundesrepublik erfunden.
Wir freuen uns jetzt über mindestens 200.000 jüdische Zuwander*innen. Ende gut. Alles gut? Von dem Sinn des Versprechens, das die Volkskammer 1990 gab, ist wenig übrig. Die aus historischer Verantwortung gegebene Zusage, jüdischen Menschen künftig in Deutschland Schutz zu gewähren, wenn sie ihn bei uns suchen, fällt einem bei dem Wort »Kontingentflüchtlinge« nicht ein. Das klingt immer auch nach Obergrenze.
Dr. Hans-Jürgen Misselwitz, Theologe und Biologe, war 1990 Mitglied der Volkskammer und Parlamentarischer Staatssekretär im Außen-ministerium der DDR. Von 1991 bis 1999 leitete er die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung und war anschließend bis 2015 im SPD-Parteivorstand, unter anderem als Sekretär der Grundwerte-kommission der SPD, der er bis heute angehört