Lange bevor es in Deutschland eine breitere Auseinandersetzung mit Zwangsarbeiter*innen gab, setzte sich ASF für diese Opfergruppe ein. Schon seit den 1960er Jahren bemühte ASF sich um eine Sichtbarmachung und Entschädigung dieser oft vergessenen Verfolgten. Freiwillige begleiten vor allem in Mittel- und Osteuropa seit Jahrzehnten ehemalige Zwangsarbeiter*innen.
Der ehemalige ASF-Freiwillige Simon Muschick im Gespräch mit Ralf Possekel von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
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Simon Muschick: Ich habe meinen Freiwilligendienst in der Ukraine gemacht und ehemalige Zwangsarbeiter*innen begleitet. Die Frage der Anerkennung der Schicksale und des Leidens dieser Menschen und der Entschädigung beschäftigt mich bis heute. Wie kam es zu den Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter*innen und andere Opfer des NS-Regimes?
Dr. Ralf Possekel: In Deutschland wurde Zwangsarbeit lange nicht als Unrecht begriffen und anerkannt. Erst Ende der 1970er Jahre entstanden hierzu relevante Studien und langsam ein Bewusstsein. Zunächst drängten die Betroffenen in Mittelund Osteuropa auf Entschädigungen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden in den 1990er Jahren unter der Kohl-Regierung in Belarus, Polen, Russland und der Ukraine sogenannte Versöhnungsstiftungen gegründet, die unterfinanziert und schlecht kontrolliert waren – offensichtlich sollte das Thema mit wenig Geld beendet werden ...
... was bekanntlich nicht der Fall war, warum?
Der entscheidende Faktor waren die jüdischen Überlebenden und ihre Organisationen, allen voran die Jewish Claims Conference. Ihre wirkungsvollen Sammelklagen und der potenzielle Imageschaden für deutsche Konzerne setzten letztlich die Zahlungen in Gang. Die Bundesregierung sah sich anfangs eher in einer Vermittlerrolle als mitverantwortlich für die Opfer. Als dann aber 1998 verhandelt wurde, war schnell klar: Es gibt nicht nur jüdische Opfer, sondern eine große Zahl weiterer Betroffener in Osteuropa. Politisch wiederum lag ein gutes Verhältnis zu den östlichen Nachbarn gerade im Vorfeld der EU-Erweiterung auch im Interesse Berlins. Hinzu kam ein Bewusstsein, dass Deutschland gesamtgesellschaftlich Verantwortung für das NS-Regime trägt. Zwangsarbeit gab es auch beim Bäcker um die Ecke, auf vielen Bauernhöfen, in den Kirchen und in Staatsunternehmen wie der Reichsbahn. Es brauchte also eine politische Antwort. Man suchte daher in internationalen Verhandlungen eine nichtjuristische Lösung. So kam es zu einer substanziellen Kompensation, wir nennen es eine materielle Geste. Sie ist mehr als nur eine Entschuldigung, aber weniger als eine volle Entschädigung.
Was bedeutete dieser Mittelweg für die Betroffenen?
Das war zwiespältig. Sie standen vor dem Dilemma, Einmalzahlungen anzunehmen und damit auf alle weiteren Ansprüche zu verzichten oder eben nicht – mit aller Unsicherheit über den weiteren Ausgang. Seinerzeit hatten die Beträge aus einer osteuropäischen Perspektive ein gewisses Gewicht, auch wenn man das heute anders beurteilen mag. So entschieden sich die meisten doch dafür. Und auf der anderen Seite bekamen die deutschen Unternehmen am Ende ihre Rechtsicherheit, die Sammelklagen wurden fallen gelassen.
Das kam aber nur jenen zugute, die als Zivilarbeiter*innen nach Deutschland oder in die verbündeten oder besetzten Gebiete verschleppt wurden? Sehr viele Kriegsgefangene gerade der Roten Armee mussten ja auch Zwangsarbeit leisten und starben dabei. Oder jene Zwangsarbeiter*innen, die genauso litten, aber nicht verschleppt wurden ...
Das ist der neuralgische Punkt. Das Ergebnis des Stiftungsgesetzes war sicherlich nicht Gerechtigkeit im umfassenden Sinne, sondern ein politischer Kompromiss: Wie viel Geld kann aufgebracht werden und wie viele Menschen sind auf der anderen Seite anspruchsberechtigt? Dabei war darauf zu achten, dass die Anspruchsberechtigten am Ende nicht eine beleidigend niedrige Summe bekommen, deswegen durfte ihr Kreis nicht zu groß werden.
Warum wurde nicht mehr Geld in die Hand genommen, um mehr Betroffene zu berücksichtigen?
Gerade auch aus der heutigen Perspektive kann man darüber diskutieren, ob zehn Milliarden DM viel oder wenig sind. Zumal nur die eine Hälfte von den Unternehmen kam und die andere vom Fiskus. Aber in der damaligen Dynamik war zunächst nur von ein, zwei, dann fünf die Rede, am Ende standen die zehn Milliarden. Es gab zwar Berechnungen, dass man eigentlich 100 oder 500 in die Hand nehmen müsste, aber alle am Verhandlungstisch erkannten eine gefühlte Grenze an.
Und wie kam man dann zu den konkreten Kategorien?
Dahinter stand die Überlegung, dass Zwangsarbeit in einem fremden, gegnerischen Land gravierender ist, als nur temporäre Einsätze im Heimatland. Oder auch die Annahme, dass die Zwangsarbeit in der Industrie härter war als in der Landwirtschaft. Doch das sind nur allgemeine Annahmen im politischen Aushandlungsprozess – bei einer so schwierigen Frage nach der Schwere des persönlichen Schicksals. Die realen Einzelfälle können davon komplett abweichen.
Und noch ein Faktor drängte zu einer raschen Einigung ...
... alle waren sich bewusst, es braucht erst eine schnelle Einigung und dann einfache Antragsverfahren. Ende der 1990er Jahre waren die Menschen schon hochbetagt. Statt einer langwierigen Einzelfallprüfung sollte schnell ausgezahlt werden. Außerdem gab es da noch einen anderen Aspekt: »Kriegsgefangenschaft begründet keinen Leistungsanspruch« stand explizit im Stiftungsgesetz.
Wie kam es zu dieser Formel, obwohl doch alle wussten, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen extrem schlecht behandelt wurden?
Aus rein politischen Gründen. Man wollte verhindern, dass frühere deutsche Kriegsgefangene ihrerseits Ansprüche anmelden gegenüber den sowjetischen Nachfolgestaaten. Zu spät hat man das mit einem Sonderprogramm korrigiert, als nur noch ganz wenige Betroffene lebten.
Nach der Einigung am Verhandlungstisch kam die praktische Umsetzung ...
... und die Stiftung EVZ wurde gegründet. Auch sie stand im Zwiespalt zwischen unermesslichem, durch keine Summe wiedergutzumachendem Leid oder einer rein verbalen, letztlich hohlen Entschuldigung. Daraus entstand die Idee, nicht alles auszuzahlen, sondern 700 Millionen DM in einen Zukunftsfonds für Erinnerungs- und Sozialprojekte zu stecken. Das war hochumstritten, weil dieses Geld auch noch an die Überlebenden hätte verteilt werden können.
Wieso kam es dann doch zur langfristigen Betätigung der Stiftung?
Gerade die Unternehmen, aber auch die Politik sind dafür eingetreten. Wie kann das »Nie wieder« in immer wieder neuen Formen zeitgemäß vermittelt werden? Wie wirken wir präventiv gegen Diskriminierung und Hass, zum Beispiel auch in der aktuellen Situation von Pandemie und autoritären Tendenzen? Und: Auch nach den Einmalzahlungen bleiben viele Überlebende auf Solidarität und Unterstützung angewiesen. Soziale Projekte, wie die Begleitung durch ASF-Freiwillige, reagieren darauf.
Ich konnte in meinem Freiwilligendienst erleben, wie schwer die Leiden der Verfolgung bis heute wiegen und unter welch schwierigen sozialen Bedingungen die Menschen leben.
Ja, viele leben nach wie vor in großer Not. Weil heute fast alle hochbetagt sind, sind soziale Isolierung und Einsamkeit noch akuter geworden. Wir werden uns für die Überlebenden engagieren, solange es sie gibt: mit Treffpunkten und Freiwilligen-Besuchen und neuen Ansätzen für die Hochbetagten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Ralf Possekel ist seit 2000 in der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) tätig. Als Historiker war er zunächst an den Zahlungen für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beteiligt und arbeitete 2002 bis 2017 für die Projektförderung. Er ist Leiter des Bereichs »Förderung und Aktivitäten«.
Simon Muschick war 2015/16 Freiwilliger in Kyjiw, Ukraine. Er unterstützte Überlebende des Nationalsozialismus durch Hausbesuche und leitete ein Sommerlager zur Unterstützung von ehemaligen Zwangsarbeiter*innen. Nach seinem Freiwilligendienst studierte Simon interdisziplinäre Russlandstudien