»Ostarbeiter«

Im Erinnerungsschatten: Die Ausbeutung und Vernichtung von Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion

Als der Krieg anfing, lebte Ljuba in der Ukraine, in der Region Wosnessensk. Kurz zuvor hatte sie die sechste Klasse beendet; da jede helfende Hand wichtig war, begann Ljuba nun gemeinsam mit ihren Eltern in der Kolchose (kollektiver Landwirtschaftsbetrieb) zu arbeiten.

Rund eineinhalb Monate nach dem Beginn des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion marschierten deutsche Soldaten am 7. August 1941 in Wosnessensk ein. Ihr Kampf um den »Lebensraum Ost« sah vor, dass die Menschen weiter in den Osten der Sowjetunion gedrängt oder vernichtet werden. Die Nationalsozialist*­innen planten den Hungertod für 30 Millionen Menschen in den besetzten Ostgebieten.

Ljubas Vater trat in die Rote Armee ein. Ljuba, ihre Mutter und ihre vier Schwestern blieben bei Wosnessensk zurück. Die Nazis gründeten das Reichskommissariat Ukraine und das Reichskommissariat Ostland, wo sie ihre rassistische Besatzungspolitik mit Repressionen und Gewalt durchsetzten. Eine allgemeine Arbeitspflicht wurde eingeführt, zunächst mit einer Altersbeschränkung: Für Männer im Alter von 15 bis 65 Jahren und für Frauen zwischen 15 und 45 Jahren. Später wurde diese Beschränkung aufgehoben.

Die Abgaben von den Kolchosen an die Besatzungsmacht stiegen an. Die Lebensmittelrationen für die Bevölkerung wurden immer kleiner. Die fruchtbare Ukraine sollte zur »Kornkammer des Reiches« werden und die »arischen Herrenmenschen« ernähren. Die Menschen im Land gerieten in immer größere, wirtschaftliche Not und litten Hunger.

Zeitgleich propagierten die Nazis, dass Menschen aus der Sowjetunion sich freiwillig für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich melden sollten. Dort würden sie eine faire Arbeit und einen gerechten Lohn erhalten, solange sie für die Deutschen arbeiteten.

Bis Mitte Januar 1942 meldeten sich 55.000 Arbeiter*innen für den Arbeitseinsatz. Später kamen noch einige weitere zehntausend Ukrainer*innen dazu. Als die ersten Gerüchte und Briefe über die Arbeitssituation und die Lebensumstände die Heimat erreichten, war vielen klar, dass sie auf die Propaganda und die leeren Versprechungen der Nazis hereingefallen waren. Um die Kriegswirtschaft zu erhalten, setzten die Deutschen auf Ausbeutung und Zwangsarbeit. Längst verließen sie sich nicht nur auf Propaganda: Auch Zwangsrekrutierungen, Gewalt, Repressionen und willkürliche Razzien kamen massiv zum Einsatz. Ganz offen wurde von »Menschenjagd« oder »Sklavenjagd« gesprochen.

In dem Reichskommissariat Ukraine zogen die Nazis ab 1943 zusätzlich alle Menschen der Jahrgänge 1922 bis 1925 zu einem zweijährigen Pflichtarbeitsdienst im Deutschen Reich ein. Zahlreiche Plakate wurden im Auftrag des Kiewer Stadtkommissars in der ganzen Ukraine verteilt, darauf ließ er verlauten: »Ich erwarte, daß alle in Betracht kommenden Jugendlichen ausnahmslos und pünktlich zur Abreise erscheinen.«

Am 19. August 1943 wurde Ljuba ins Deutsche Reich gebracht, als eine von zahlreichen Jugendlichen aus der Sowjetunion, die zwischen 1942 und 1945 Zwangsarbeit leisteten. Ging die 17Jährige mit der Hoffnung auf mehr? Aus Zwang? Oder um ihre Mutter und Schwestern finanziell zu unterstützen?

Auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeits- und Lebensort gab es für die Zwangs ar beiter*innen aus der Sowjetunion drei ärztliche Untersuchungen, um die Gesundheit und körperliche Verfassung der neuen Arbeitskräfte zu prüfen. Ljuba schrieb in einer Postkarte an ihre Familie, die heute im Staatsarchiv der Oblast (Verwaltungsgebiet) Mykolajiw aufbewahrt wird: »Ich bin für gesund befunden worden. Darum wartet zu Hause nicht auf mich.«

In der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie der Nazis galten die Menschen aus der Sowjetunion als »Untermenschen«, die nationalsozialistische Lebensraumpolitik sah ihre Umsiedlung beziehungsweise Vernichtung vor. Bedingt durch den Kriegsverlauf und den Arbeitsbedarf in der Rüstungsindustrie wurde zunehmend auf die Ausbeutung von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter*innen zurückgegriffen. Mehrere Millionen starben in kürzester Zeit durch mangelhafte Ernährung, Misshandlungen, Strafen und willkürliche Gewalt.

»Ich bin am Leben und gesund«, schrieb Ljuba an ihre Familie. »Wir sind 15 Tage lang gefahren, und mir ging es sehr gut. Jetzt bin ich in Bremen, in einem Lager.« Zusammen mit ungefähr 700 anderen Frauen war sie im Lager Heidkamp untergebracht. Viele von ihnen kamen, so wie Ljuba, aus der Sowjetunion. Das Lager wurde eingerichtet und betrieben von der Organisation Todt (O. T.) – eine paramilitärische Bauorganisation und zuständig für viele kriegswichtige Bauprojekte. Es war das größte Zwangsarbeitslager in der Rüstungslandschaft in Bremen-Farge und Umgebung.

Im Sommer 1944, dem Höhepunkt des massiven Einsatzes von ausländischen Arbeitskräften im Deutschen Reich, wurden in der Rüstungsindustrie, der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in deutschen Haushalten mehr als 13 Millionen Zwangsarbeiter*­­innen eingesetzt: zivile Zwangsarbeiter*­innen, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene – darunter ungefähr 2,75 Millionen zivile Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion.

Wie die meisten Zwangsarbeiter*innen wusste auch Ljuba nicht, für welches Rüstungsprojekt sie arbeiten musste und welche Ziele die Nazis damit verfolgten. Die sogenannten »Ostarbeitererlasse« vom Februar 1942 bestimmten ihr Leben in einem Land, in dem sie nicht als Menschen wahrgenommen wurden. Die Regelungen für »Ostarbeiter« waren an anderen Erlassen für Zwangsarbeiter*innen orientiert und nochmal verschärft worden. So war es den sogenannten »Ostarbeitern« streng verboten, das Lager zu verlassen. Sie durften nur raus, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gehen. Sie durften kein Geld, keine Wertgegenstände, keine Fahrkarte, kein Feuerzeug und kein Fahrrad erwerben oder besitzen. In den Lagern wurden Frauen getrennt von Männern untergebracht. Ihre Vorgesetzten durften sie züchtigen. Sie erhielten eine schlechtere Verpflegung und weniger Lohn als Deutsche. Jeglicher Kontakt zu Deutschen war verboten. Sex mit Deutschen wurde sogar mit dem Tode bestraft. Wer diese Gesetze nicht einhielt, dem drohte die Einweisung in ein Konzentrations- oder Arbeitserziehungslager.

Aus der Interview-Sammlung des Projekts Zwangsarbeit 1939–1945 des Zwangsarbeit-Archivs (eine Kooperation der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum), die tausende Stunden Video und Audio-Interviews mit Zwangsarbeiter*­innen enthält, wird klar, dass die »Ostarbeitererlasse« im Grunde Vogelfrei-Gesetze gewesen sind: Willkür und Misshandlungen waren an der Tagesordnung, auch Fälle der sogenannten »Vernichtung durch Arbeit« sind überliefert.

Zudem mussten Zwangsarbeiter*innen eine diskriminierende Kennzeichnung auf ihrer Brust tragen. Für die zivilen Zwangsarbeiter*­innen aus der Sowjetunion war dies ein rechteckiger, blauweißer Stoffstreifen, auf dem in Großbuchstaben »OST« stand. Unter keinen Umständen durften sie die Kennzeichnung ablegen. Auch Ljuba war eine solche »Ostarbeiterin« – ein nationalsozialistischer Begriff, der die Situation von fast drei Millionen zivilen Bürger*innen aus der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs nur unzureichend umschreibt und harmlos wirkt. Dahinter steckte die unmenschliche, rassistische Behandlung und der Antislawismus der Nazis.

Von den Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion waren fast zwei Drittel Frauen. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel war ab März 1942 vor allem für die Organisation und Deportation aller ausländischen Arbeitskräfte für den NS-Staat verantwortlich. Er sagte: »Ich werde diese Russinnen zu Hunderten und Tausenden einsetzen. Sie werden für uns arbeiten. Sie halten zehn Stunden durch und machen jede Männerarbeit.«

Die Frauen mussten arbeiten bis zum Umfallen. Schwangerschaften waren nicht gewollt. Viele Frauen berichteten später von Zwangsabtreibungen oder auch davon, dass ihnen die Kinder nach der Geburt weggenommen worden waren. Viele Neugeborene kamen in die sogenannten »Ausländerkinder-Pflegestätten«. In diesen Einrichtungen starben mindestens 50.000 Kinder an den »geplanten Folgen organisierter Unterversorgung«. Kurz nach der Entbindung mussten die »Ostarbeiterinnen« sofort wieder arbeiten.

Wie viele Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion in Deutschland ums Leben kamen – dazu gibt es keine belastbaren Zahlen. Ljuba hat überlebt. Im Sommer 1945 wollte sie in die Heimat zurück. Die Westalliierten übergaben die sowjetischen Bürger*innen aus ihren Besatzungszonen an den sowjetischen Geheimdienst. Vermutlich wurde auch Ljuba daraufhin in ein sogenanntes Prüf und Filtrationslager des NKWD (Innenministerium, in dessen Zuständigkeitsbereich auch die Geheimpolizei sowie die Straf und Arbeitslager fielen) überstellt. In diesen Lagern mussten die ehemaligen Zwangs arbeiter*­innen lange, strenge Verhöre über sich ergehen lassen. Für alle registrierten sogenannten »Repatrianten« galt eine Schuldvermutung: Allen Zwangsarbeiter*innen wurde seitens der Sowjetunion Kollaboration und Spionage vorgeworfen.

Natürlich war es schwer, diese pauschalen Vorwürfe in den Verhören zu widerlegen. In den schlimmsten Fällen kamen die sogenannten »Repatrianten« erneut in ein Lager und zur Zwangsarbeit nach Sibirien. Auch für diese Opfergruppe gibt es keine belastbaren Zahlen. Bis zum Zerfall der Sowjetunion und sogar darüber hinaus wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter*innen jedenfalls nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie wurden oft gedemütigt, ausgegrenzt, verfolgt und erhielten keine finanzielle Unterstützung. Deswegen schwiegen viele und sprachen niemals ein Wort über ihr Leid als Zwangsarbeiter*innen.

Auch in Deutschland waren »Ostarbeiter« sehr lange Zeit nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie gehörten zu den »vergessenen Opfern des Nationalsozialismus«. Noch 1997 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl individuelle Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter*innen für ausgeschlossen. Erst nachdem die rotgrüne Regierung unter Gerhard Schröder den Weg für die Einrichtung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) ebnete, konnten am 30. Mai 2001 die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter*innen beginnen.

Über 30.000 Zwangsarbeitslager hat es in Deutschland gegeben. 76 Jahre nach Kriegsende sind einige davon Gedenkorte, die an sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen erinnern. Über die Opfergruppen wird in den vergangenen Jahren immer mehr geforscht, zahlreiche Publikationen werden veröffentlicht, auch zivilgesellschaftliche Initiativen beschäftigen sich zunehmend mit dem Thema. Nach wie vor ist das Thema »Zwangsarbeit« aber in den Medien und der politischen Öffentlichkeit unterrepräsentiert. Womöglich fehlt deshalb noch eine differenzierte Darstellung über die sowjetischen Zwangsarbeiter*innen. Eine zusätzliche Herausforderung für Historiker*innen ist, dass viele Zeitzeug*innen bereits verstorben sind. Natürlich versuchen sie einen Kontakt zu Nachfahren und Angehörigen aufzubauen oder zu intensivieren (wenn er bereits vorhanden ist). Es gibt jedenfalls zahlreiche Quellen, die noch nicht ausgewertet wurden und in Archiven lagern.

Ksenja Holzmann ist pädagogische Mitarbeiterin am Denkort Bunker Valentin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Vermittlungsarbeit zum Thema NS-Zwangsarbeit und Zweiter Weltkrieg sowie der wissenschaftlichen Recherche zu zivilen Zwangs arbeiter*­innen.

  • Gefördert vom:
  • im Rahmen des Bundesprogramm
  •  
  •