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Jiddisches Erbe in der Ukraine
Ich führe seit Kurzem ein Wörterbuch der Toten. Die Toten sprechen mit mir durch meine Eltern, was meine Eltern nicht sonderlich begeistert. Sie ärgern sich sogar und versuchen, ihrer spirituellen Rolle zu entkommen. Am liebsten würden sie sagen: »Wir erinnern uns an nichts, es war nichts«, und es stimmt natürlich, aber nur zum Teil. Sie selbst möchten sich an gar nichts erinnern – schließlich waren sie nicht auf der Welt, als das geschah, woran man sich erinnern könnte –, aber ihre Sprache verfügt über ein eigenes Gedächtnis. Ihre Sprache erinnert sich an alles. Geister schleichen durch die Tore der Wörter aus der Vergangenheit hierher, und ich fange diese Wörter alle ab und liste sie auf. Keine Ahnung, wozu.
»Was für ein Zores mit dem Fledermausvirus«, sagt meine Mutter im März 2020, und ich frage, was sie mit ›Zores‹ meint. Irritiert stottert die Mutter, sie wisse es nicht genau. »Kennst du das Wort etwa selbst nicht?!« Ein andermal erzählt sie, dass ihr Vater immer nach Hause gefunden habe, egal, wie betrunken, weil seine Pferde außergewöhnlich kluge Tiere gewesen seien. Der Mann habe sich einfach auf seine Kutsche gelegt, den Pferden »Zurik!« befohlen, und die Pferde hätten die Kutsche ohne Führung brav nach Hause gezogen. »Zurik! Zurik!«, wiederholt Mutter voller Freude und auch ein bisschen wehmütig, weil ihr Vater schon lange tot ist.
Ich frage, was dieses mysteriöse, sich in keinem ukrainischen Wörterbuch befindende Wort bedeuten solle. Sie sagt, so hätte man in ihrem Dorf halt geredet.
Erst nachdem ich begonnen hatte, die deutsche Sprache zu lernen, vor zehn Jahren ungefähr, begann ich auch langsam, etwas zu ahnen. Jedes Mal, wenn ich ein deutsches Wort wiedererkannt habe, weil meine Eltern es in einer abgewandelten Form immer schon benutzten, machte ich mich darüber lustig, sie würden wohl Deutsch sprechen mit der Überzeugung, es sei Ukrainisch. »Du bist der Letztyj«, würden sie sagen, um jemanden zu beleidigen, was offensichtlich dem deutschen Wort ›Letzte‹ ähnelt. Eine exzentrische Frau bezeichnen sie immer als ›mischigena‹. Dieses Adjektiv enträtselte ich schnell, vielleicht weil ich selbst ein bisschen ›meschugge‹ bin. Und kommt ›zurik‹ etwa nicht von ›zurück‹? Mama, Papa, wer brachte euch dieses Vokabular nur bei?
Das ostgalizische Dorf, aus dem sie stammen und aus dem sie Ende der 1970er Jahre Hals über Kopf in die Stadt geflohen sind, schien mir immer besonders trist zu sein. Es lag volle drei Stunden Zugfahrt sowohl von Iwano-Frankiwsk als auch von Tscherniwzi (in der K.-u.-k.-Monarchie: Stanislau und Czernowitz) entfernt. Im Nirgendwo. Und nichts war hier interessant, weder die langweiligen Hügelchen noch die veralteten Bücher in der modrigen Bücherei. Das einzige Lebensmittelgeschäft befand sich in einem hässlichen Betongebäude, einem Mausoleum ähnlich. Es gab noch eine Apotheke, eine Poststelle, ein Krankenhaus, eine Schule. Auf den Bänken entlang der kurvigen Hauptstraße hielten schwätzende Großväterchen die allgemeine Ordnung aufrecht. Sie erzählten Witze über Gorbatschow und beschimpften Kinder, die, an der Kirche vorbeigehend, vergessen hatten, sich zu bekreuzigen.
Ich verbrachte viel Zeit auf diesen Bänken, weil meine Eltern mich jeden Sommer herzlos bei ihren Eltern deponierten. Danach fuhren sie mit dem neuen Auto in die Stadt zurück. In ihre geschichtslose, proletarische Zukunft, die allerdings von Kolchosenarbeit und Plumpsklo befreit war. Und ich, die Fünfjährige, zum Naturgenuss und Milchtrinken verurteilt, lief dem Auto weinend hinterher. Sie flohen aus dieser Welt und ließen mich als Tribut zurück.
Ich sah mich um und konnte nichts sehen, keine Spur. Ein rot bemalter Traktor vor dem Eingang einer sowjetischen landwirtschaftlichen Einrichtung zog meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Im sogenannten Zentrum des Dorfes ragte das Denkmal eines unbekannten Soldaten empor, ein paar Trauerweiden flatterten über dem ewigen Feuer. Der Zweite Weltkrieg, hier ausschließlich »der Große Vaterländische« genannt, stellte für alles einen Ausgangspunkt dar. Davor gab es kein Leben und keine Geschichte. Ein heruntergekommenes katholisches Kloster pflegte niemand, niemand beweinte ein paar geplünderte Gräber am Rand des Friedhofs. Im Dorf lebte zu dieser Zeit kein einziger Pole oder sonst ein Fremder.
Noch wusste ich nicht, dass man auf diesem verwüsteten Stück Erde die Landschaften nicht mit Augen betrachten sollte, sondern mit den Ohren. Obwohl keiner etwas sagt, sollte man hier zuhören, um die Wahrheit zu erkennen.
Stellen Sie sich einen Kreis mit dem Dorf meiner Eltern in der Mitte vor. Ein paar geschichtlich bekanntere Ortschaften formen die äußere Linie: Kolomyja, Horodenka, Sabolotiw, Obertyn. Einst waren diese kleinen Städte fast zur Hälfte jüdisch, die Ukrainer und Polen bildeten die Minderheit. Es gibt Bücher darüber. Aus Horodenka stammt eine Legende des chassidischen Rabbiners Nachman. Um sich von den unreinen Gedanken zu befreien, saß Nach 34 Thema man von Horodenka auch im Winter in einer Mikwe mit eiskaltem Wasser. Egal, wie schlimm die Lage gerade war, pflegte er zu sagen: »Zum Besseren!« Er lebte im 18. Jahrhundert. Und im 20. Jahrhundert errichteten die Nazis in Kolomyja eines der größten Ghettos der Region. Zwanzigtausend Juden wurden hier untergebracht und Monate später wurden alle erschossen oder in das Todeslager Bełżec deportiert. Auf den Feldern rund um Obertyn konnte man noch lange nach dem Krieg Grabsteine des zerstörten jüdischen Friedhofs finden. Doch es suchte keiner.
Und in Sabolotiw fand wöchentlich ein allerorts berühmter Markt statt. Meine Großeltern fuhren regelmäßig hin, um ihre Weizenvorräte aufzustocken, und kauften einmal im Jahr auch zwei Ferkel, die sie dann großzügig fütterten und zu Ostern in schmackhafte Würste verzauberten. Ich war immer bei der Schlachtung dabei, ich hatte keinerlei Angst vor dem Blechzuber voller Eingeweide und Blut. Danach versuchte ich einen Teich in unserem Gemüsegarten anzulegen, weil ich mich dazu entschied, Fische zu züchten, und als mein Großvater die Ausgrabung entdeckte, drohte er mir mit einer Mistgabel und rief aufgebracht, dass ich kein liebes Kind sei, sondern ein ›Bachur‹. Dies war eine gängige Bezeichnung für einen aufsässigen Jungen.
Erst vor einem Jahr begegnete ich dem Wort wieder, als ich das Jüdische Museum in Wien besuchte. Auf einem Infoschild zur jüdischen traditionellen Ausbildungskultur erfuhr ich, dass der einfache Schüler im Hebräischen ›Bachur‹ heißt. Ich brach im Museum zusammen und weinte lange, was niemanden um mich herum wunderte, als gehörte es hier zur Routine. Dann lieh ich mir ein Jiddisches Wörterbuch in der Stadtbücherei aus und las es Wort für Wort, Wort für Wort, wie eine geheime Offenbarung. ›Zores‹ kommt also von der ›Zore‹, was ›Unglück‹ bedeutet. Und ›Zymes‹ kommt von ›Zimeß‹, ›Süßgemüsegericht‹. Und so weiter und so fort. Erstaunlicherweise fand ich jede Menge ukrainischer Wörter darin, die, so meine ich, in keiner anderen slawischen Sprache vorkommen, zum Beispiel ›Zuzik‹ (›Welpe‹) oder ›Zwit‹ (›Baumblüte‹).
Es war so, als hätten die vergessenen Toten mir durch die Jahrzehnte zugewunken, dem zum Naturgenuss und Milchtrinken verurteilten Mädchen ein Zeichen gegeben, dass es sie doch gibt, und zwar in unmittelbarer Nähe. Als ihre Welt vollkommen vernichtet wurde, konnte sich nur ihre Sprache retten. Sie hat sich in der Sprache der Übergebliebenen versteckt.
Nach einer kurzen Recherche stellte sich heraus, dass zwei Drittel aller Bewohner im Dorf meiner Eltern Juden waren. Ein richtiges Schtetl, mehr als Kolomyja, mehr als Obertyn. Sechshundert jüdische Häuser wurden verbrannt, das ganze Zentrum, darunter auch eine hölzerne Synagoge aus dem 17. Jahrhundert. Auf einem erhaltenen Foto kann man ihr wunderschön bemaltes Gewölbe sehen.
Ich zeige das Foto meinen Eltern und sie schweigen fassungslos. An der Stelle, wo die Synagoge gestanden hat, sind sie auf dem Weg zur Schule ungezählte Male vorbeigegangen. »Was willst du von uns?«, fragen sie schließlich. Was ich will, weiß ich selbst noch nicht.
»Ihr sollt sprechen«, sage ich. Sprecht, ich schreibe es auf.
Tanja Maljartschuk wurde 1983 in der West-Ukraine geboren und lebt seit 2011 als Schriftstellerin in Österreich, 2018 erhielt sie den IngeborgBachmann-Preis. Ihre jüngste Veröffentlichung in deutscher Sprache ist der Roman »Blauwal der Erinnerung«, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 2019.