Der Holocaust-Überlebende Arthur Langerman übergibt Forschungszentrum einzigartige Bilder-Sammlung zum Antisemitismus.
Barbara-Maria Vahl: Herr Professor Jensen, Sie haben kürzlich von einem HolocaustÜberlebenden, Arthur Langerman, eine einzigartige Sammlung mit Artefakten des visuellen Antisemitismus als Leihgabe für Ihr Institut übergeben bekommen. Worin liegt der besondere Wert dieser Sammlung?
Uffa Jensen: Es sind verschiedene Medien, die in dieser Sammlung enthalten sind, Postkarten, Poster, Plakate, aber auch einzelne Original-Karikaturen, die in Witzblättern oder Ähnlichem veröffentlicht wurden. Für die Forschung ist wichtig, dass es eine sehr große Sammlung von fast 10.000 Objekten ist, die aus vielen Ländern Europas kommen. So kann man sehr viele Vergleiche anstellen, etwa, wie Motive wandern, wo Schwerpunkte sind, welche Unterschiede in bestimmten Regionen es gibt.
Wenn man sich diese vielen tausend Bilder anschaut: Was ist es, was sie verbindet?
Das ist nicht so einfach – wir haben es mit vielen verschiedenen Materialien zu tun und die Bilder wurden ja auch sehr unterschiedlich eingesetzt. Aber es gibt in vielen dieser Bilder Versuche, den jüdischen Körper, Männer, Frauen, Kinder, die jüdischer Herkunft sind, in einer bestimmten Weise darzustellen – natürlich in einer oft spöttischen und herabsetzenden Weise. Es wird in vielen dieser Bilder versucht, eine Art typischen jüdischen Körper oder typisches jüdisches Gesicht herzustellen. Das zeichnet viele dieser unterschiedlichen Bildergattungen aus.
Könnte man sagen, es gibt einen psychologischen Impetus, der all dem zugrunde liegt?
Auch das ist nicht so einfach. Wir Historiker sind da vorsichtig, weil wir gerade über die Produzenten solcher Alltagsgegenstände – denn das waren Alltagsgegenstände – oft nicht so viel wissen. Darin liegt auch eine Möglichkeit dieser Sammlung: über die Karikaturisten oder Zeichner mehr herauszubekommen. Ebenso wenig wissen wir, was die Käufer oder die Nutzer dieser Bilder gedacht haben. Einen übergreifenden Mechanismus aber meine ich doch zu erkennen, er gilt vor allem für Zentraleuropa oder Westeuropa: In dem Moment, wo Juden stark in die Gesellschaft integriert sind und in gewisser Hinsicht unsichtbar werden, weil sie sich kleiden wie andere Bürger, weil sie am gesellschaftlichen Geschehen wie andere Bürger auch teilhaben und man einen Juden – verkürzt gesagt – nicht mehr ohne weiteres erkennt, in dem Moment versuchen die Bilder, den Juden immer noch zu zeigen. Diese Bilder sind insofern Propaganda, als sie zum Rezipienten sagen: Wenn Du nur genau genug hinschauen würdest, dann siehst Du den eigentlichen Juden hinter der Fassade, die genauso bürgerlich und genauso wie unsere ist. Das ist, glaube ich, die Ideologie hinter vielen dieser Bilder. Aber auch da muss ich vorsichtig sein. Eine andere Frage ist: Die Bilder waren ja als Witz gemeint – und man muss herausfinden, warum die Leute das überhaupt in jenem Kontext lustig gefunden haben.
Bestimmte Klischees und antisemitische Darstellungsweisen von Juden hatten ja lange vor dem Nationalsozialismus in Deutschland Tradition – wäre es möglich, diese Motive aus der Alltagswelt zu verbannen und ihnen den Boden zu entziehen?
Schwierig. Viele Motive verändern sich durchaus, haben aber aus einer Vogelperspektive Konstanz. Sie finden zum Beispiel immer wieder Juden und Schweine; in einigen dieser Bilder kommen auch Ritualmordvorwürfe aus dem Mittelalter wieder auf. Es gibt schon ein Arsenal, das immer wieder genutzt wird. Die Assoziation von Juden und Geld zirkuliert in diesen Bildern, häufig auf den Plakaten, oder die Bebilderung der "Jüdischen Weltverschwörung"; und dann finden Sie Bilder von Juden als Kraken, oder von Juden als alte Männer, die den Globus umgreifen, das ist ein ganz berühmtes Bild aus Frankreich, diese Motive sind zum Teil sehr alt. Aber diese Bilder schaffen auch neue Realitäten. Und dann kann man sehen, dass zum Beispiel die Bilder jüdischer Körper viel akzentuierter werden, als Darstellungen zu Zeiten der Reformation waren. Dass Juden so große Nasen haben und große Lippen und Ohren, das ist ein Moment, das in diesen Bildern im späten 19., Anfang des 20. Jahrhunderts viel prägnanter ist, und das korreliert natürlich mit Annahmen aus der Rassentheorie, die in der Zeit sehr en vogue sind. Ob man die Bilder wegkriegt…? Das Interessante an den Bildern ist – und auch das kann ich noch nicht wirklich erklären –, dass sie 1945 eigentlich verschwinden. Diese Bildtradition in Europa, diese Spottbilder, diese ganzen Postkarten, die gibt es nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich fast nicht mehr. Es mag damit zu tun haben, dass viele dieser Bilder humoristisch gemeint waren und dass man nach 1945 über Juden nicht mehr öffentlich lachen mag. Oder dass man diese Bilder einfach wirklich zu ekelhaft fand. Nun ist es aber so, dass wir in der Gegenwart gerade sehen, so mein Eindruck, dass durch die sozialen Medien und das Internet viele Bilderwelten wieder neu entstehen, teilweise auch diese alten historischen Bilder wieder verbreitet werden, aber auch neue entwickelt werden, durch Memes oder Videos, oder karikaturartige Zusammenstellungen.
Wie wird Ihre Forschungsarbeit und ebenso Ihre Öffentlichkeitsarbeit aufgrund dieser Sammlung aussehen?
(lacht) Das ist sehr viel Arbeit … Wir haben Ideen zu mehreren Projekten, aber man muss das erstmal ganz strukturell betrachten. Für uns als Zentrum für Antisemitismusforschung bedeutet das, dass wir ein Archiv aufbauen müssen. Diese Sammlung muss man betreuen, digitalisieren, man muss sie bearbeiten, viele Fragen beantworten: Wer hat das gemalt, wo wurde das hergestellt, welcher Verlag hat das gedruckt, wie oft war das verbreitet, wer hat das benutzt, wer hat es verschickt, wohin, was steht auf diesen Karten drauf, all diese ganz banalen Fragen. Das muss systematisch geklärt werden und dafür braucht man eine Datenbank. Wir müssen also zunächst einmal die Grundlagen schaffen, bevor wir an die Forschungsprojekte herangehen können, zum Beispiel nationale Bildtraditionen miteinander vergleichen.
Was erhoffen Sie sich im idealen Fall für eine mögliche Wirkung von Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit aufgrund dieser Exponate?
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Herr Langerman hat uns die Sammlung geschenkt, aber bestimmte Aufgaben daran geknüpft, die wir sehr ernst nehmen. Neben dem Schutz der Sammlung und der Forschungsarbeit ist ihm die Bildungsarbeit sehr wichtig. In jedem Fall möchten wir ein breites Publikum erreichen. Auch hier sind wir bereits in Planungen für Projekte mit Bildungsträgern. Weiterbildung von Lehrer*innen und Ausstellungen sind weitere Möglichkeiten. Da müssen zunächst Konzepte erarbeitet werden, um den Leuten etwas an die Hand zu geben, wie diese Dinge zu verstehen sind, wie sie sie zu lesen haben. Man kann solches Material ja nicht einfach unkommentiert in den Raum stellen. Wir haben zum Beispiel mit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus zu arbeiten begonnen; da geht es darum zu sehen, was können Lehrer*innen da eigentlich mit machen, welche Vorstellungen entwickeln sie, was man in den Unterricht einbringen kann. Dann wird man hoffentlich die Schülerinnen und Schüler da abholen, in den Bilderwelten, in denen sie selber stecken, also Memes, Videos, Facebook, WhatsApp-Bilder, die zirkulieren, da passiert ja wahnsinnig viel. Für uns als Forschungsinstitut ist auch reizvoll, dass wir dann auch mit dem kritischen Feedback weiterarbeiten können, dass es eine Rückkopplung gibt.
Erzählen Sie mir etwas über Arthur Langerman …
Artur Langerman ist 77 Jahre alt, er wurde während des Krieges in Belgien geboren und dank einer besonderen Regelung ist er als Kleinkind nicht deportiert worden und hat den Krieg in einem Waisenhaus überlebt. Seine Mutter hat Auschwitz überlebt, sein Vater nicht. Er war ein Kind, das für das Sammeln interessierte und hat irgendwann angefangen, sich über das Sammeln dieser Bilder quasi die Geschichte des Antisemitismus und der Verfolgung selber verständlich zu machen, auch die eigene Familiengeschichte zu verstehen. So beschreibt er das. Schon in den 1960er Jahren hat er angefangen, solche antisemitischen Postkarten und Bilder zu sammeln und tut dies bis heute.
Was war sein Motiv, Ihnen diese Sammlung anzuvertrauen, die nun wenige hundert Meter vom Reichstag entfernt untergebracht ist?
Er hat manchmal gesagt, dass es in Berlin begonnen hat und jetzt auch in Berlin endet. Dies ist das Land, das sich dafür interessiert und hier sind die Leute, die sich dafür starkmachen, die Sammlung zur Geltung zu bringen, daran zu forschen und sie im Sinne einer Bekämpfung von Antisemitismus einzusetzen. Das ist ihm sehr wichtig, und deshalb hat er sich letztlich dafür entschieden, dies in unsere Hände zu geben. Das ist für uns eine hohe moralische Verantwortung und ein politischer Auftrag.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Uffa Jensen, stellvertretender Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Kiel, Jerusalem, Berlin und New York und wurde 2016 an der FU Berlin mit einer Arbeit zur Globalgeschichte der Psychoanalyse habilitiert. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus. Er hat zahlreiche Bücher und Texte veröffentlicht.
Die Fragen stellte Barbara- Maria Vahl, Journalistin, Autorin und Redakteurin, freie Redakteurin für das zeichen.