Die Rubrik „Zum Verlernen“ ist ein Bestandteil der Schriftreihe „Predigthilfen“ von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Dafür zuständig ist unter anderem Helmut Ruppel, der im Folgenden erklärt, was denn verlernt werden müsste – und auch gleich ein Beispiel gibt.
Ein chassidischer Frommer fragt Rabbi Bunam nach einer Schriftstelle, die er nicht verstehe. Es handelte sich um den Fluch über die Paradiesschlange, die, weil sie Menschen dazu verführte, Gott gleich sein zu wollen, fortan auf dem Boden kriechen und Erdenstaub fressen soll. „Das ist doch keine Strafe“, sagte der Mann, „das ist doch eher ein Segen; denn wenn die Erdenstaub fressen soll, dann ist sie das einzige Lebewesen, das immer genug zu essen hat.“ „Ja“, antwortete Rabbi Bunam, „sie wird nie um etwas bitten müssen. Das ist ihre Strafe.“
Nun gehört es zur Kirche seit zwei Jahrtausenden, dass sie ihre ältere Schwester (zugegeben, eine oft vertrackte Beziehung), die Synagoge, nie um etwas gebeten hat: nicht um Kenntnisse, nicht um Verstehenshilfen, nicht um Freundschaft, nicht um Gemeinschaft auf dem Weg durch die Geschichte, nicht um gemeinsames Klagen und Loben – haben sie doch beide die Psalmen in ihrer Schatztruhe –, nicht um das Bibellesen, nicht um ein gemeinsames Frühstück, vor allem nicht um irgendeine Auskunft. Und nach den bösen Jahren, nicht, bis auf zaghafte Anläufe, um Vergebung.
Im Gegenteil, sie diktierte, sie führte die Feder, sie verurteilte, sie erklärte sich in manchen Fragen der Lehre für „unfehlbar“. Sie war im paradiesischen Stande der Freiheit von allem Lernen. Die Kirche hat nie etwas lernen oder erbitten müssen. In Bamberg, in Straßburg, in einigen Orten in Europa stehen sich Kirche und Synagoge gegenüber; die eine aufrecht-herrschaftlich, die andere untertänig gemacht und aussichtslos, mit verbundenen Augen. Nie um etwas bitten müssen – ein Fluch.
Unter die neuen überlebenswichtigen Tugenden gehört die „Fehlerfreundlichkeit“ – auch für die Kirche. Wir wollen Rabbi Bunams Auslegung ernst und wörtlich nehmen und den Fluch, nie um etwas bitten zu müssen, mit der Bitte um Entschuldigung und Verzeihung abzuwenden versuchen. Wir bitten um Entschuldigung für überheblich-herabsetzende Redeweisen gegenüber Israel. Wir bitten um Verzeihung, dass wir in unserer Rede und Wortwahl immer das Licht auf unsere Seite haben fallen lassen und alles Dunkle auf die jüdische Seite. Mit dem Wortpaar „Gesetz und Evangelium“ ist sogar so etwas wie eine evangelische Identität im Kontrast entstanden. Wir bitten um Verzeihung für diese ungeschwisterliche Wortwahl.
Von den vielen Vorurteilen, Lügen und Missverständnissen stellen wir ein Wort an die Spitze, das in seiner schmähenden und vernichtenden Etikettierung in der Umgangssprache fest verwurzelt ist: alttestamentarisch.
„Alttestamentarisch“? – Alttestamentlich!
„Schon oft habe ich wiederholt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit.“ Dies einzuschärfen wird Elie Wiesel nicht müde.[1] Gleichgültigkeit, die Diktatur der Gefühllosigkeit. Gleichgültigkeit, Sieg der Apathie über Leidenschaft und Liebe. Gleichgültigkeit, die größte Gefahr für eine Gesellschaft.
Ist das auch an der Sprache zu erkennen, dem auffälligsten Indikator für den Zustand einer Gesellschaft? Wir wählen ein Wort, zu dem Kirche, Politik, Gesellschaft samt allen Medien greifen, wenn das Widrige, das zu Verurteilende, das zu Verabscheuende benannt und getroffen werden soll: „Alttestamentarisch!“
Wer in das Wortschatz-Modul der Universität Leipzig „alttestamentarisch „ eingibt, findet das Wort graphisch in einem dichten Geflecht mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, „Strafe“, „Rache“, „Brandmarkung“, „Affront“ und – Gebot(!) – Begriffe, die in nächster Nähe zum „alttestamentlichen Rache- und Zornesgott „ stehen. Es geht nicht um irrtümliche „versehentlich falsche Sprachverwendung“[2]; wer nämlich „alttestamentlich“ aufruft, findet „Gebot“, „Gottesbild“, „Bibel“, „Religion“ und „Gott“. „Das hat wenig mit Zufall oder Dummheit und viel mit Vorurteil und Antijudaismus zu tun“.[3] Die Wortschatz-Belege stellen unzählige kuriose, unsägliche, hasserfüllte und bizarre Zitate zusammen, unter denen bemerkenswert ist, dass neben den Journalist*innen vor allem Kunsthistoriker*innen, Literaturwissenschaftler* innen und Germanist*innen in ihrer Verwendung des Wortes auffallen, häufig auch Sozialdemokrat*innen[4]. Es gibt jedoch „Gegenstimmen „: „Wenn israelische Politiker und Militärs auf terroristische Bomben und Selbstmordattentäter mit Gegenschlägen reagieren, heißt es bei uns in vielen Kommentaren, das entspreche dem typisch ›alttestamentarischen Racheprinzip‹ nach der Formel ‚Auge um Auge‘ (‚alttestamentarisch‘ statt ‚alttestamentlich‘ ist übrigens Nazisprache).“ [5] Letzteres ist nicht ganz korrekt, denn Andreas Mertin kann nachweisen, dass die ersten Fundstellen bei von Brentano (1811), Hauff (1826), Reuter (1856) und Strindberg (1897) liegen, also in Frühromantik bis Spätromantik. Höchstinteressant ist, dass zum Beispiel Jean Paul, Jacob Burckhardt, das Grimmsche- Wörterbuch und andere korrekt das Wort „alttestamentlich“ verwenden. Der Gebrauch von „alttestamentarisch“ bei Hitler und Goebbels ist zum Schaudern, wir geben ihnen nicht die Ehre mit einem Zitat[6].
Wie sich das Wort „alttestamentarisch“ zu einem Schlüsselwort des alltäglichen Antijudaismus entwickelt hat, zeigt der Leserbrief[7] eines „Christen“ an die Online-Ausgabe des Focus: „Eigentlich sollte seit Jesus für jeden Christen das Doppelgebot der Liebe der Maßstab des Handelns sein. Wer das negiert und die Rachegelüste goutiert, schließt sich selber von der aufgeklärten westlichen Gesellschaft aus, die eben auf diesen christlichen Werten basiert. ›Auge um Auge‹ ist alttestamentarisches Gehabe und hat in der heutigen Zeit, egal ob im Iran oder in den USA, nichts mehr verloren.“ Sieh an! „Gebildeter Antisemitismus“! „…schließt sich selber aus…“, „… hat … nichts mehr verloren“, „…wer das negiert…“ – ein Ressentiment wandelt sich zur Aggressivität, wer soll außerhalb des Christentums da noch bestehen? Und dies ist Alltag! Ein Wissenschaftler klagte neulich, man bräuchte zwei Assistent*innen für den täglich anfallenden Bedarf an Protestschreiben gegen die manifeste judenfeindliche Terminologie wie „alttestamentlich“ in allen Medien. Andreas Mertin schließt seinen Aufsatz mit den Worten: „…protestieren Sie, verlangen Sie die Änderung der Wortwahl!“ Er hat Recht, denn es ist zu befürchten, dass auch hier die Gleichgültigkeit schon eingezogen ist. Bei aller Antisemitismuskritik in Kirche und Theologie bleiben alte Vorurteile und man wird den Verdacht nicht los, „alttestamentarisch“ gehöre weiterhin dazu. Es wäre ein bedrückendes Signal, wenn die Selbstauslegung des Christentums auf solche Stereotype nicht verzichten und der Gleichgültigkeit nicht wehren könnte. Das Wort „alttestamentarisch“ hat wegen seines eindeutig negativen Klangs keinen Ort im christlichen, ja, in keinem Sprachgebrauch.[8] Zugrunde liegt ein Verständnis des Alten Testamentes als einem Buch der Gesetze, einem „gesetzlichen“ Buch. Daher „testamentarisch“, beziehungsweise beim Alten Testament: „alttestamentarisch“. Es ist der 2. September 2018: Zwei kritische Journalisten werden von einem Gericht in Myanmar hart verurteilt, nein, in der Sprache des Fernsehens „mit alttestamentarischer“ Härte – und das in einem hinduistischen Land...
Helmut Ruppel, Pfarrer und Studienleiter i. R., arbeitete lange für Zeitungen und Rundfunk, seit 2007 ist er in der Redaktion der „ASF-Predigthilfe", www.helmut-ruppel.de
[1] Elie Wiesel (1991): Die Anatomie des Hasses. In: ders.: Den Frieden feiern,
Herder spektrum 4019, S. 82–84.
[2] Andreas Mertin (2005): »-arisch« oder: Sprache als Indiz. Zur Renaissance
eines Adjektivs. In: Magazin für Theologie und Ästhetik, 33/2005, URL:
www.theomag.de/33/am145.htm (Stand: 26.09.2019)
[3] ebd.
[4] A.a.O., S. 3
[5] www.zdk.de/salzkoerner/salzkorn.phg?id=112
[6] Andreas Mertin, a. a. O., S. 3
[7] www.focus.de./panorama/welt/alttestamentarischen-denken-iran-kommentar_
3521781.html
[8] Albrecht Lohrbächer, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt (Hg.) (2006): Was
Christen vom Judentum lernen können, Kohlhammer, Stuttgart, 100 f.