Im Freiwilligendienst und über Grenzen, Generationen und Gegensätze hinweg
„Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andre Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; (...) Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. Denn das Ich des Grundworts Ich-Du ist ein andres als das des Grundworts Ich-Es“ „Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du“ Martin Buber, Ich und Du.
Jehuda Bacon und Johannes Gockeler
Es ist ein merkwürdig Ding mit der Begegnung: Ihr Zauber liegt im Überrascht werden, im plötzlichen Angerührt werden. Darum sind wirklich tiefe Begegnungen mit dem Anderen eigentlich nicht planbar. Sie sind keine verabredeten Treffen, sondern sie geschehen einfach. Man kann der Begegnung jedoch den Raum bereiten, um das Unplanbare wahrscheinlicher zu machen. Genau das tun wir bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und ich denke, dass darin die Bedeutung unserer Freiwilligendienste liegt. Wir handeln in der Überzeugung, dass „alles wirkliche Leben Begegnung ist“, wie es das vielleicht ein wenig zu oft zitierte Wort Martin Bubers sagt. Buber war ein jüdischer Religionsphilosoph, in dessen Werken es um die Begriffe „Beziehung“, „Begegnung“, Ich-Du“ und „Dialog“ kreist. Er verstarb vor 50 Jahren in Jerusalem.
Doch wie können wir den Raum für die Begegnung bereiten? Sie inszenieren? Zum einen bedarf es dafür – ganz körperlich – den Aufbruch zu anderen Orten, so wie es unsere Freiwilligen tun. Dahinter steckt, bei aller Unplanbarkeit des Wesentlichen, viel Planung von allen beteiligten Seiten – den Verantwortlichen bei ASF, den Projektpartnern in den verschiedenen Ländern und den Freiwilligen selbst.
Zum anderen bedarf es einer inneren Haltung, also der Bereitschaft, sich für die Möglichkeit der Begegnung mit einem anderen Menschen zu öffnen und die Bereitschaft, sich von seinem Gegenüber ansprechen und bewegen zu lassen. Was dies bedeutet und welche Folgen es haben kann, möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen: an den Begegnungsgeschichten der Freiwilligen und an meiner eigenen Begegnung mit dem Künstler Jehuda Bacon.
Beglückende Offenheit
Als ich mit der letzten Gruppe der Israel-Freiwilligen ihr vergangenes Freiwilligenjahr auswertete, war so viel von der genannten Offenheit zu spüren. Es war beglückend, mit wie viel Bereitschaft und Neugier fast alle in ihren Friedensdienst hineingegangen sind und wie bereichert sie nun nach Hause zurückgekehrt sind.
Zu der Auswertungsrunde sollte jede_r einen Gegenstand mitbringen, der für ihn und sie das Jahr symbolisiert und zusammenfasst. Die Runde war hoch emotional, tränenreich und voller Abschiedsschmerz. Eine Freiwillige, die mit Kindern in einem Frauenhaus gearbeitet hatte, legte den mitgebrachten Gegenstand schnell wieder weg und sagte unter Tränen:
„Eigentlich hätte ich meine Kinder mitbringen müssen, denn sie sind mir das Liebste gewesen.“
Allen in der Runde erging es ähnlich: Die mitgebrachten Gegenstände verwiesen auf einen Menschen, auf eine Beziehung und eben auf eine Begegnung, die sie verändert hatte. Ein anderer Freiwilliger brachte eine kleine Kette mit einem Davidsstern, die er von einer Überlebenden geschenkt bekommen hatte. Die Kette erinnert ihn an die bewegende Begegnung mit dieser Überlebenden, an ihre Lebensgeschichte, aber sie symbolisiert auch die Begegnung mit dem Judentum.
Bei einem früheren Seminar mit den Freiwilligen beschäftigten wir uns mit den verschiedenen Positionen im israelischpalästinensischen Konflikt. Es kam zu mitunter intensiven und mühsamen Diskussionen. Dabei beeindruckte mich, wie gründlich sich die Gruppe mit den vielen Argumenten und Detailfragen des Konfliktes beschäftigt hatte. Und das jenseits jeden Denkens in Schwarz und Weiß. Auch dieses erfahrungsgesättigte Lernen macht einen Freiwilligendienst wertvoll.
Sich von seinem Gegenüber bewegen zu lassen
Doch noch wichtiger als der Austausch von Argumenten und das rationale Hinterfragen sind die Begegnungen, die wirklich bewegen und verändern, und die ein tiefes Erkennen des Anderen und seines Menschseins umfassen. Auch wenn manchmal ein magischer Moment besonders in Erinnerung bleibt, braucht es für diese Begegnung den langen Atem eines Freiwilligenjahres, das mehr ist als eine Studienreise. Vom möglichen Scheitern und den Anstrengungen, die Begegnung bedeuten kann, ist da noch nicht gesprochen. Unsere Freiwilligen trauen sich etwas, wenn sie in ein oft fremdes und fremdsprachiges Land aufbrechen und sich auf die Begegnungen mit den Menschen dort einlassen.
Während meines eigenen Freiwilligendienstes im Jahr 2001 besuchte ich regelmäßig den Künstler Jehuda Bacon. Ich bin dankbar, dass unsere Begegnung bis heute anhält. Jehuda wurde 1929 in Mährisch-Ostrau geboren. Er überlebte das Vernichtungslager Auschwitz und wanderte nach Israel aus. Dort machte er als junger Mann die Bekanntschaft von Martin Buber und wurde sein Schüler. ASF begleitet Jehuda seit vielen Jahren. Generationen von Freiwilligen berührte er durch seine Lebensgeschichte und durch seine strahlende Güte und Menschenliebe, mit der er der Hölle von Auschwitz und dem Hass der Täter_innen entgegentritt.
Von Jehuda habe ich viel über Begegnung und Beziehung erfahren. „Erfahren“ meint beides: durch Zuhören gelernt und durch Erleben gespürt. Sichtbar wird die Begegnung auch in seinen Bildern, suchend zunächst, schmerzhaft, wo Stacheldraht und Noten verschmelzen, auch kraftvoll und voller Lebensfreude, zärtlich und humorvoll.
Jehuda, der nach dem blanken Überleben keinem Menschen mehr traute, spricht nicht nur in Bescheidenheit und Dankbarkeit von jenen Lehrern, die ihm wieder den Weg in ein beziehungsvolles Leben wiesen. Menschen wie Přemysl Pitter, Hugo Bergmann oder eben Martin Buber. Er trägt nicht nur ihr Licht weiter, sondern er lebt die Möglichkeit echter Begegnung zwischen Menschen vor und übersetzt für mich die philosophische Rede vom beziehungsstiftenden „Grundwort Ich-Du“ in die Wirklichkeit.
Es berührt zutiefst, wenn Jehuda Sätze wie diesen spricht:
„Wer in der Hölle gewesen ist, weiß, dass es keine Alternative zum Guten gibt“.
Dieser Satz, von ihm gesprochen, berührt nicht etwa durch die moralische Autorität des Überlebenden. Das Gute strahlt er aus und lebt es in der zugewandten und auch nach Jahren geduldigen Begegnung mit unseren Freiwilligen.
Und schließlich gibt es noch einen Moment der Begegnung, der fast zu intim und fragil ist, um ihn niederzuschreiben und der etwas mit dem zu tun hat, was Martin Buber „ewiges Du“ nennt. Wo nämlich wirkliche Begegnung zwischen zwei Menschen stattfindet, kann etwas entstehen, was über die beiden hinaus und auf ein Drittes verweist. Jehuda selbst nennt dies – in der Sprache der osteuropäischen chassidischen Mystik, in deren Tradition auch Buber stand – „den göttlichen Funken“ in jedem Menschen, den es zu erkennen gelte. Dieses Dritte (oder diesen Dritten) wahrzunehmen oder überhaupt als solches benennen zu wollen, ist vielleicht der religiösen Musikalität des Einzelnen überlassen. Persönlich glaube ich jedoch, dass darin – ob benannt oder unbenannt – die eigentliche Bedeutung des Aufbruchs zur Begegnung bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste liegt, weil sie uns im tiefsten Inneren verändern kann.
Von: Johannes Gockeler, Jahrgang 1981, war von 2001 bis 2002 Freiwilliger in Israel, studierte Judaistik und ist derzeit ASF-Landesbeauftragter in Israel