Menschen, die Geschichte überlebt haben

Boris Tschalisch, geboren 1923 in Kiew, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald vergrößern

© Luigi Toscano

Boris Tschalisch, geboren 1923 in Kiew, Überlebender des
Konzentrationslagers Buchenwald

Mein Freund Boris Tschalisch - die Begegnung mit einem Überlebenden des Holocaust

Ich erinnere mich gut an meine erste Zeit bei Sima und Boris. Wir mussten die Kälte der Novembertage auf der Straße lassen und erst einmal Vertrauen zueinander finden. Dennoch erzählte mir Boris bei meinem ersten Besuch, dass er in einem Konzentrationslager in Deutschland war. Aber auch, dass er Deutschland liebe. Das zeigt drei seiner Eigenschaften: Boris ist immer ehrlich, oft bereit für Konfrontation und manchmal scheinbar widersprüchlich.

Die Stationen seines Lebens

Sima und Boris sind ein älteres Ehepaar, das ich während meines Freiwilligendienstes in der Ukraine besucht habe. Sie wohnen in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung in Kiew in einem sowjetischen Plattenbau. Sima ist Mitte 70, Boris 92 Jahre alt. Manchmal haben wir in dieser kleinen Wohnung zusammen gekocht, öfter haben wir zusammen gegessen, immer aber haben wir uns unterhalten. Oder besser gesagt: Ich habe Boris zugehört. Er ist wortgewandt und interessiert an der deutschen Sprache. Aufmerksam, ob ich ihn verstehe. Energisch in dem, was er sagt. Er beleuchtet die Stationen seines Lebens. Auch wenn ich sie nicht in Gänze nachzeichnen kann, so führten sie ihn wohl nach einem freiwilligen Eintritt in die Rote Armee zunächst in Kriegsgefangenschaft nach Suhl und dann in das Konzentrationslager Buchenwald. Nach der Befreiung war er in einem Krankenhaus in Frankreich und lief zu Fuß zurück nach Kiew. Doch dort hatte er lange Zeit mit dem KGB zu kämpfen und durfte sich der Stadt nicht nähern. Er litt unter Tuberkulose, ging in den Donbass, war auf der Krim und landete wieder in der Hauptstadt der Ukraine. Er spricht über Religion, die ihn beschäftigt, über die er unzählige Bücher liest. In seinem Regal befinden sich die Tora, die Bibel und der Koran auf mindestens vier verschiedenen Sprachen. Und er spricht über die Gegenwart, die ihn traurig und wütend macht.

Die Opfer von damals sind die Opfer von heute geblieben

Rentner_innen haben es schwer in der Ukraine, der Staat kürzt die Renten, er streicht die Vergünstigungen für Opfer des Nationalsozialismus, das Gesundheitssystem ist eine Katastrophe, viele alte Menschen sind nicht mobil, der Krieg im Osten belastet sie, sie haben Angst und sind misstrauisch. Das macht das Leben schwer und mühsam und das artikuliert Boris auch. Das war nicht immer einfach für mich. So gerne hätte ich ihre Situation geändert, aber das kann ich nicht. Das ließ mich öfter zweifeln. Zweifeln, ob es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt gibt. Simas und Boris Situation ist der meiner Großeltern so entgegengesetzt. Mein Opa ist nur knapp jünger als Boris. Aus einer gewissen Perspektive betrachtet, sind die Opfer von damals Opfer von heute geblieben. Gleichzeitig begegnete ich bei Sima und Boris vielem Schönem. Es hat sich eine besondere Art von Freundschaft entwickelt. Eben habe ich einen Brief von ihnen in meinem Briefkasten gefunden. Diese Freundschaft hält auch über Grenzen hinweg. Einige von Boris Worten werden mir immer in Erinnerung bleiben. Sie sind mein persönliches „Gegen das Vergessen“. So auch ein Lied, das er des Öfteren gesungen hat, noch aus der Zeit, in der er in Deutschland litt: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach einem Dezember, kommt auch wieder ein Mai“.

Von: Regine Alber, Jahrgang 1996, war von 2014 bis 2015 Freiwillige in Kiew und begleitete den Fotografen Luigi Toscano bei seinem Kontakt mit den Überlebenden der deutschen Konzentrations- und Arbeitslager.

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