Wer Chancen sichern will, muss denen widersprechen, die schon aufgegeben haben

„Es geht bei Weitem nicht nur darum, dass du etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf und eine berufliche Perspektive hast, sondern darum, sich für eine staatliche Struktur einzusetzen, die aus der Vergangenheit ihre Lehren gezogen hat.“ Dies sagt Hans-Jochen Vogel, früherer Bundesminister und SPD-Vorsitzender, im Gespräch mit Leo Buddeberg, der ihn für ein Interview in München besucht hat.

Foto: Klaus D. Wolf

Leo Buddeberg: Herr Dr. Vogel, haben Sie Angst um den Fortbestand der Demokratie?

Dr. Hans-Jochen Vogel:

Angst habe ich nicht. Aber ich habe schon vor längerer Zeit deutlich gemacht, dass Demokratie nicht mehr selbstverständlich ist, sondern dass Demokratie immer wieder gegen Angriffe verteidigt werden muss, und zwar nicht nur die Demokratie, sondern auch die Werte, auf denen die Demokratie beruht. Die Angriffe haben in letzter Zeit nicht ab-, sondern deutlich zugenommen. Ein Angriff auf die Demokratie war ja auch der Anschlag auf die Synagoge in Halle. Ich konnte jetzt eine längere Liste aufzählen. Eine völlig neue Situation für die Demokratie bei uns ist auch die Entwicklung der AfD. Es gibt dort Bereiche, die für die Demokratie in einer Weise gefährlich sind, wie es die NPD nicht war.

Also würden Sie sagen, dass die Demokratie heute weniger stabil ist als in den 50er-, 60er-Jahren? Obwohl damals nach der Implementation des neuen Systems beispielsweise die NPD ja auch stark war?

Stark war die NPD nicht. Sie war nie im Bundestag und ist aus den Landtagen, in die sie einzog, schon nach einer Legislaturperiode wieder ausgezogen. Die Demokratie ist heute härteren Angriffen ausgesetzt und infolgedessen muss sie sich auch entschiedener verteidigen. Das tut sie ja auch bereits zunehmend. Sorge bereitet mir in diesem Zusammenhang übrigens auch die Art und Weise, wie sich der Umgangston unter den Menschen verändert hat. Dabei spielen leider die zu Unrecht „sozial“ genannten Medien eine erhebliche Rolle, weil die Äußerung von Hass und von Wut und die Äußerung von Drohungen offenbar im digitalen Bereich viel leichter sind als im täglichen Umgang oder im schriftlichen Umgang.

Wenn wir auf Ihre Jugend zurückschauen, dann sehen wir, dass Sie zur Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen sind und 1943 in die Wehrmacht eingezogen wurden. Sie haben nach dem Nationalsozialismus ein sehr politisches Leben geführt. Hatte dieses Bedürfnis, politisch zu werden und für Ihre Meinung und die Demokratie aufzustehen, etwas mit dort gemachten Erfahrungen zu tun?

Ich hatte viel Glück. Erstens im Krieg: Ich war dreimal im Lazarett, zweimal wegen Verletzungen oder Erkrankungen, nur einmal wegen eines Schusses. Das war im März 1945, da erlitt ich einen Bauchschuss. Ich war dann im Lazarett und bin aus dem Lazarett in Italien um den 10. April 1945 herum herausgekommen. Bald danach bin ich von italienischen Partisanen gefangengenommen worden und anschließend daran in der Nahe von Vicenza in amerikanische Gefangenschaft gekommen. Im Juli wurden wir Jüngeren bereits entlassen, sodass ich also schon in der zweiten Hälfte Juli wieder in Gießen/L. zu Hause war. Das war wirklich Glück. Ich habe mich dann um die Zulassung zum Studium in Marburg bemüht und dann zwei Jahre lang dort studiert. Während der Zeit ist mir sehr rasch deutlich geworden: Es geht nicht nur darum zu kämpfen, dass es dir selber besser geht, dass du wieder zu essen hast, dass du wieder eine Wohnung hast, dass du wieder eine berufliche Perspektive hast, sondern du musst dich auch für eine staatliche Struktur einsetzen, die aus der Vergangenheit Erfahrungen zieht. Dabei war uns das ganze Ausmaß der Verbrechen damals noch nicht genügend bekannt. Ich habe mich deshalb schon im Jahr 1947 dafür engagiert, mitzuhelfen, eine neue Demokratie aufzubauen und ihren Werten zur Geltung zu verhelfen. Deswegen bin ich zu allen damals schon aktiven Parteien hingegangen und habe mir die Versammlungen angehört, soweit sie schon Grundsatzpapiere hatten, habe ich mir die angesehen, und das ist alles eingeflossen in meine eigene schriftliche Konzeption.

Wenn Sie die gesellschaftlichen Tendenzen sehen, für die aktuell AfD, Pegida und antisemitische Anschläge stehen, was löst das vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen im Nationalsozialismus in Ihnen aus?

Es löst in bestimmten Fallen, so bei Reden von Herrn Höcke, die Erinnerung daran aus, welche Reden im Münchener Bürgerbraukeller Anfang der 20er-Jahre gehalten wurden und was sich dann daraus entwickelt hat, ja. Ich staune manchmal, dass das alles doch bei nicht ganz wenigen in Vergessenheit geraten ist. Ich habe nicht zuletzt deshalb mit zwei anderen Mitstreitern, die inzwischen schon lange verstorben sind, zur Verteidigung der Demokratie und zur Erhaltung der Erinnerung an die Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft vor jetzt 26 Jahren eine Vereinigung gegründet, die den Titel Gegen Vergessen – Für Demokratie tragt. Diese Vereinigung ist gerade jetzt in ganz besonderer Weise gefordert. Ich bin froh, dass es sie inzwischen mit immerhin 40 regionalen Arbeitsgruppen gibt.

Personen wie Sie, die Erinnerungen an die Zeiten haben, in denen andere Verhältnisse herrschten, sind heute nicht mehr ganz so zahlreich. Glauben Sie, dass generell für die Erinnerung mehr getan werden müsste?

Sie sagten „nicht mehr so viele“. Ja, das ist mir in den letzten Tagen durch den Tod meines Freundes Erhard Eppler deutlich geworden. Ich bin nun in dieser Generation, in dieser Altersstufe einer der ganz wenigen, die noch leben. Das Zweite, dass der Staat als solcher, die staatlichen Stellen und die staatlichen Repräsentanten zur Verteidigung der Demokratie wach geworden sind, wurde ich schon sage. Die Frage ist, ob jeder einzelne Bürger seine Mitverantwortung erkennt. Dass es eben nicht genügt, dass man mit heruntergezogenem Mundwinkel danebensitzt und sagt: „Das ist schlimm.“ Nein! Dass diese Menschen selber etwas tun! Und da ist noch viel zu aktivieren. Sie kommen von Aktion Sendezeichen Friedensdienste – das ist ja ein guter Beleg dafür, dass man etwas tun kann! Und die von mir mitgegründete Vereinigung ebenfalls!

Sie haben gerade schon aktuelle gesellschaftliche Debatten anklingen lassen. Um dort zu bleiben: Entspringt für die Migrations- und Fluchtdebatte, die wir seit Jahren führen, eine Verantwortung aus der deutschen Geschichte?

Auch auf diesem Gebiet erwächst eine Verantwortung, und zwar eine Verantwortung vielfältiger Art. Erstens: Vertrieben hat ja das NS-Regime auch Millionen von Menschen, nicht nur Juden, sondern auch viele andere. Zum Zweiten ist eine Folge dessen, was vor 1945 geschehen war, dass das Grundrecht auf Asyl in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Dieses Grundrecht auf Asyl muss sehr ernstgenommen werden. Allerdings ist das Grundrecht auf Asyl auch nicht ein Recht, aus wirtschaftlichen Gründen Aufnahme zu erlangen. Wir haben es natürlich seit 2015 hier mit einem Thema zu tun, auf das sich insbesondere die AfD immer wieder beruft. Ich habe es damals sehr richtig gefunden, dass Frau Merkel denen, die da verzweifelt im Budapester Bahnhof und woanders saßen, den Zugang zu uns ermöglicht hat. In der Folgezeit allerdings muss man einen gewissen Unterschied machen. Gauck hat ihn so formuliert: „Das Herz muss weit für Willkommen sein, aber wie weit reicht das Herz, um den Willkommenen dann auch wirklich eine Realität zu vermitteln?“ Darin steckt halt, dass nicht Menschen in beliebiger Zahl kommen können, sondern dass es dafür einer gewissen Ordnung bedarf – die ja dann, was von Kritikern häufig übersehen wird, von der Bundesregierung schrittweise geschaffen worden ist. Ein Weiteres gehört dazu: dass nämlich die eigentlichen Ursachen für diese Millionenwanderungen im Kopf bleiben. So die jahrelangen Bürgerkriege, verzweifelte wirtschaftliche Verhältnisse oder die Auswirkungen des Klimawandels – und das sind Probleme, die uns noch lange beschäftigen werden, auf die gerade auch die Jüngeren Antworten finden sollten.

Bestimmte Faktoren oder Institutionen, die früher vielleicht eine große Wirkung auf den Transport von Werten in politische Debatten hatten, sind heute weniger relevant, so zum Beispiel Kirchen. Sie sind Katholik: Welche Aufgabe können Kirchen heute noch in der Demokratie und in der Sensibilisierung gegen Gewalt übernehmen?

Da schlagen Sie ein neues Buch auf. Erstens gibt es für mich ja die Frage, auf welchen Werten die Demokratie beruht. Dann die weitere Frage, woraus ich diese Werte herleite. Ich habe immer deutlich gemacht, dass ich diese Werte aus meinen christlichen Überzeugungen herleite. Die Rolle der Kirchen ist deswegen heute schwierig geworden, weil erstens insbesondere die katholische Kirche, aber auch in geringerem Umfang die evangelische, wegen der schlimmen Missbrauchsfälle selber vor ganz ernsten Problemen steht. Zweitens: Wir haben einen Übergang zur Individualisierung. Der Einzelne wird deshalb nicht mehr so stark von der Gemeinschaft determiniert, der er angehört.

Sie sprechen die Individualisierung der Gesellschaft an. Wenn ich mir andererseits die politische Landschaft anschaue, habe ich schon das Gefühl, dass wir uns in einer sehr politisierten Situation befinden. Die Fridays-for-Future-Proteste, die #unteilbar- Demonstrationen und andere Bewegungen, die wir in den letzten Monaten gesehen haben, sprechen insbesondere für eine Bereitschaft meiner Generation, sich auch im Kollektiv einzubringen und zusammen mit anderen für etwas aufzustehen.

Ich begrüße das sehr, so etwa die von Greta Thunberg begründete Fridays-for-Future-Bewegung. Das ist ermutigend, dass so viele junge Menschen Zusammenhänge erkennen und dann nicht nur mit herabhängenden Mundwinkeln kritisch beiseite stehen, sondern sich engagieren. Aber mit Kirchen lässt sich diese Bewegung nicht vergleichen.

Inwiefern muss sich denn Ihrer Meinung nach in nächster Zeit die Parteiendemokratie verändern, um diese Dynamiken und Bewegungen aufzugreifen?

Ja, Parteien müssen sich auch verändern, und zwar durch eine stärkere Beteiligung der Mitglieder. Nicht nur, indem diese Stimmen abgeben, sondern indem sie selber aktiv werden. Da hat meine Partei jetzt mit der Mitgliederentscheidung über den Parteivorsitz schon einen richtigen Weg angetreten. Das kann auch für andere Fälle gelten. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir die Bürger so wie auf der kommunalen und der Landesebene auch auf Bundesebene beteiligen könnten. Vielleicht nicht so sehr zu Ja-Nein-Entscheidungen, aber zur Mitwirkung in der Form, dass sie beispielsweise ein Gesetz, das der Bundestag verabschiedet hat, stoppen können und sagen können: Das muss noch mal beraten werden mit denen und denen. Oder dass sie auch bestimmte Gesetze anstoßen, dass sie sagen: Wir brauchen ein Gesetz in einer bestimmten Richtung.

In Großbritannien haben wir einen solchen Entscheid einer Ja-Nein-Frage auf Staatsebene gesehen, der sich jetzt auswirkt. Parallel dazu werden in anderen europäischen Staaten ähnliche Tendenzen größer. Gucken wir nach Ungarn, Italien, Polen, die die Europäische Union schwächen, die als Friedensgarant wichtig und nicht selbstverständlich ist.

Der Brexit ist insgesamt eine Ermutigung, weil die Neigung anderer Länder auszutreten nach diesen britischen Erfahrungen sehr gering geworden ist. Die Europäische Union ist auch mit den Briten in dieser Hinsicht klug und vernünftig umgegangen. Die Briten selber haben in den letzten Wochen und Monaten ein Schauspiel geboten, das ich mir von dem Mutterland der Demokratie so nicht erwartet hätte. Natürlich weist der Zusammenhalt in der EU Punkte auf, die Fragezeichen aufwerfen: Orbán in Ungarn zum Beispiel, dann auch Polen – aber das ist alles nicht mit Großbritannien zu vergleichen. Der Druck auf diese Staaten, sich europagemäß zu verhalten, ist durch die Brexit-Erfahrungen noch etwas stärker geworden. Schließlich muss man auch bei einer solchen großen Einrichtung wie der Europäischen Union Probleme erwarten, dass es Schwierigkeiten gibt und dass die dann überwunden werden. Bis heute halte ich die Entwicklungen der EU für akzeptabel und erfreulich insgesamt. Die Tatsache, dass wir heute seit 70 Jahren keinen Krieg mehr in Europa haben, hängt damit zusammen.

Herr Dr. Vogel, insgesamt sind Sie optimistisch mit Blick auf den Fortbestand der Demokratie. Kann ich es auch sein? Ja. Auch deswegen, weil die Chancen, dass wir uns erträgliche Verhältnisse schaffen, nach meiner Lebenserfahrung größer sind, wenn man zuversichtlich ist, als wenn man sagt, es ist eigentlich alles schon verloren, es ist alles vorbei und wird immer schlechter. Wer Chancen sichern will, braucht ein gewisses Maß an realistischer Zuversicht und muss denen widersprechen, die sagen: Ist eigentlich schon alles erledigt, wird immer schlechter, ist nicht aufzuhalten. Auch der Klimawandel, "Herrgott noch mal", das meinen ja auch die Millionen Jungen jetzt, ist aufzuhalten!

Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Hans-Jochen Vogel, geboren 1926 in Göttingen, ist ein deutscher Politiker (SPD). Vogel, der Jura studierte, war von 1960 bis 1972 Oberbürgermeister von München, von 1972 bis 1974 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, danach bis 1981 Bundesminister der Justiz und im Jahr 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin. Von 1987 bis 1991 war er der Nachfolger von Willy Brandt als SPD-Vorsitzender.

Leo Buddeberg ist 20 Jahre alt und war 2017/18 Freiwilliger im Belgischen Staatsarchiv in Eupen. Seit seiner Rückkehr studiert er Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ist derzeit studentischer Mitarbeiter in der Freiwilligenkoordination von ASF. Leo engagiert sich seit einigen Jahren unter anderem bei den Jusos und den Juso-Hochschulgruppen.

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