Die Demokratie kann nur bestehen bleiben und sich fortentwickeln, wenn sie sich auf eine starke und aktive Zivilgesellschaft verlassen kann, in der jede und jeder Einzelne sich für ihre Werte und Errungenschaften engagiert, sagt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.
Die Demokratie ist ein komplexes Gebilde, das sich nicht selbst erhält. Sie unterliegt keiner konstanten oder gradlinigen Entwicklung, sondern ist, wie kaum etwas anderes, abhängig von der Gesellschaft, in der sie existiert. Von Menschenwürde, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit bis hin zur sozialen Absicherung – all dies sind hart erkämpfte Werte und Errungenschaften, das Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklung und der Beharrlichkeit vieler Menschen. Insbesondere die Zivilgesellschaft, also der nicht staatliche politische Raum, trägt zu der nie endenden Erneuerung der Demokratie bei. Dieser freiwillige Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen, sozialen Bewegungen oder Non-Profit-Verbanden stellt eine eigene Sphäre jenseits von Staat, Ökonomie und Privatsphäre dar. Sie ist von Freiwilligkeit, Selbstbestimmung, Öffentlichkeit und gegenseitiger Hilfe sowie durch ein hohes Maß an gesellschaftlicher Selbstorganisation gekennzeichnet.
Der normative Begriff der Zivilgesellschaft steht für friedliche Konfliktaustragung, für toleranten, respektvollen Umgang im öffentlichen Raum und die Anerkennung von Vielfalt. Insbesondere das öffentliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger jenseits der staatlichen Akteure und politischen Institutionen tragen dazu bei, demokratische Werte in einer Gesellschaft zu verwurzeln und Institutionen sowie eine freiheitliche Lebensweise zu schützen.
In diesem Konzept von Zivilgesellschaft gestalten Organisationen einen toleranten Umgang mit Vielfalt und Differenz. Sie schaffen Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, sexueller Orientierung oder sozialer Lage. Da soziale Segregation solche Begegnungen oftmals verhindert, sind inklusive, lokale Infrastrukturen umso wichtiger. Ein Beispiel aus der Praxis ist das Programm Miteinander Reden, welches bundesweit 100 Projekte in ländlichen Räumen fordert. Das wesentliche Kennzeichen in diesem Ideenwettbewerb und Weiterbildungsangebot ist es, Akteur* innen vor Ort bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Ideen und Vorhaben zu starken und professionalisieren. Und hier sei auch die Arbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste genannt, die sich gegen Antisemitismus, Rassismus und jegliche Form der Ausgrenzung richtet und einsetzt für starke, demokratische Gesellschaften.
Damit geht einher, dass zivilgesellschaftliche Organisationen durch gezielte Agenda Setting Probleme in der Öffentlichkeit thematisieren und für diese sensibilisieren können. Die Zivilgesellschaft kreiert den Raum, in dem illegitime Ungleichheitsbestände und ihre Legitimationsversuche zur Sprache gebracht werden. Öffentlichkeit zu schaffen, sich politisch einzumischen und Forderungen zu stellen gehört folglich zu den zentralen Leistungen zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Ein Beispiel ist hier die Kolonialvergangenheit Deutschlands: Erst langsam entwickelte sich ein Bewusstsein für dieses historische Kapitel und die Verwobenheit des deutschen Kaiserreiches und dessen Vorgängern in die Ausbeutung anderer Länder. Träger dieser Impulse sind im Wesentlichen zivilgesellschaftliche Akteur*innen. Sie weisen auf "vergessene Geschichten" hin und wollen vermeintlich eindeutige Narrative irritieren.
Innerhalb der Zivilgesellschaft erleben wir zunehmend diverse und insbesondere neue, rechte Bewegungen. Dabei scheinen radikale Rechte ganz selbstverständlich das bislang eher linke Handlungsrepertoire der Zivilgesellschaft zu übernehmen und Öffentlichkeit für ihre Perspektiven zu schaffen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen darin gestärkt werden, diese radikalen Strukturen anzusprechen und aufzubrechen, indem sie die Stimme erheben und Gegennarrative schaffen.
Obwohl die Zivilgesellschaft einen Raum darstellt, in dem wahrgenommene Probleme und Themen von jeder und jedem zur Sprache gebracht werden können und sollen, muss der geschaffene Dialog stets auf demokratischen Spielregeln fundieren. Für das, was gesagt werden kann, müssen rote Linien gezogen werden. Denn es ist zu erkennen, dass radikale Akteur*innen Stück für Stück versuchen, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten. Dabei hat nicht zuletzt der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke gezeigt, dass auf Worte auch schreckliche Taten folgen können.
Deshalb darf gerade im digitalen Raum die Bedeutung der Zivilgesellschaft nicht vernachlässigt werden. Ein klares Zeichen hierfür setzt beispielsweise die gemeinnützige Organisation HateAid, eine Beratungs- und Anlaufstelle von Opfern digitaler Gewalt. Dabei hilft die Organisation denjenigen, die Gewalt im Netz ausgesetzt ist, und zeigt potenziellen Tätern und Täterinnen, dass ihre Taten Konsequenzen haben. Auf diese Weise sollen Menschen ermutigt werden, weiterhin ihre Meinung in den politischen Diskurs einzubringen und sich von Gewalt in sozialen Medien nicht abschrecken zu lassen. Einen fairen Dialog fordert auch der Verein Diskutiert mit mir. Hier treffen zwei zufällig ausgewählte Personen gegensätzlicher politischer Ansichten in einem Ein-zu-eins-Chat direkt aufeinander und können in einem geschützten digitalen Raum über Politik diskutieren.
Es zeigt sich: Demokratie ist mehr als ein Kreuz auf dem Stimmzettel, sie erhält sich nicht von selbst. Zivilgesellschaftliche Organisationen als Sphäre der Selbstorganisation benötigen die Bereitschaft, zivile Normen durch Zivilcourage im öffentlichen Raum zu verteidigen. Es bedarf eines aktiven Engagements und Starke, um demokratische Werte zu schützen und mit einer deutlichen Haltung zu verteidigen. Hierzu muss ein widerstandsfähiger Rahmen gegenüber der Systemverschiebung geschaffen werden. Ein Rahmen, in dem alle drei Sektoren – Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – gleichermaßen beteiligt sind und zusammen agieren. So können Gegennarrative zu extremistischen Strömungen geschaffen werden, die immer mehr versuchen, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten. Die politische Bildung stellt dabei einen wesentlichen Faktor dar. Nicht nur, um demokratisches Wissen zu vermitteln. Sondern um darüber hinaus jede und jeden Einzelnen zu mobilisieren, Teil einer aktiven Zivilgesellschaft zu werden, die Stimme zu erheben und ein klares Zeichen zu setzen. Denn die Zivilgesellschaft ist ein Raum, in dem Demokratie gelebt wird, aber auch mit einer deutlichen Haltung verteidigt werden muss.
Thomas Krüger ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Seit 1995 ist er Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes. Außerdem ist er zweiter stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Jugendmedienschutz und Mitglied des Kuratoriums für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.