Was hält die Staaten von Europa künftig zusammen? Einige Lehren sollten beherzigt werden auf dem Weg von einer zerstörerischen Vergangenheit
in eine aufgeklärte demokratische Zukunft für Europa.
Das Symbol der EU ist der Sternenkreis. Alle Sterne Europas sind deutlich voneinander abgehoben, gleich groß und gleich weit vom Zentrum entfernt. Sie strahlen dabei die geometrische Zuverlässigkeit eines Uhrwerks aus. Lange Zeit haben wir dieses Motiv im Rahmen der offiziellen Integrationsrhetorik der EU als ein Symbol für ‚Einheit in der Vielfalt’, und damit als Bild einer selbstverständlichen und dauerhaften Harmonie gesehen. Das ist längst nicht mehr möglich. Nationale Selbstbehauptung, Kollektivegoismus und Fremdenfeindlichkeit setzen die EU unter Druck. Was dabei immer deutlicher auffällt, ist die leere Mitte des Emblems. In einer Zeit, wo europäische Solidarität bröckelt und die zentrifugale Kraft von Nationalismen immer stärker wird, müssen wir uns mit viel größerem Ernst fragen: Was hält diese Sterne eigentlich noch zusammen und davon ab, aus ihrer Kreisbahn zu treten, zu entgleisen und auseinander zu fallen? Was könnte außer dem Euro als verbindende Kraft in der Mitte des Symbols stehen?
Eine europäische Identität kann nicht auf ein europäisches Narrativ gegründet werden. Zu unterschiedlich sind dafür die Perspektiven, Erfahrungen und Deutungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die beiden Weltkriege. Dennoch ist und bleibt für die Europäer diese Gewaltgeschichte der Ursprung, aus dem Europa hervorgegangen ist. Sich im Spiegel dieser Geschichte besser kennenzulernen und dialogisch aufeinander einzustellen können, ist ein entscheidender Teil der Arbeit an einem europäischen ‚Wir’.
Für dieses europäische Wir gibt es einen klaren Kompass. Ich nenne ihn den ’europäischen Traum’. Dieser Traum ist aber nichts Vages, sondern sehr handfest und praktisch. Er besteht aus vier Lehren, die die Mitgliedstaaten aus der Geschichte gezogen haben. Diese Lehren verbinden die zerstörerische Vergangenheit mit der aktuellen Gegenwart und weisen den Weg in eine aufgeklärte demokratische Zukunft für Europa.
Nach 1945 – nach dem Zweiten Weltkrieg - waren es zwei Lehren, die zunächst im Mittelpunkt standen:
1. das Friedensprojekt – wie aus Todfeinden friedlich kooperierende Nachbarn werden und
2. das Freiheitsprojekt – wie aus Diktaturen Demokratien werden.
Nach 1989 – nach Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs – spielten das Friedens- und Freiheitsprojekt der Demokratisierung noch einmal eine wichtige Rolle. Bei der Erweiterung der EU kamen aber noch zwei weitere Projekte dazu, die für die alten und neuen Mitgliedstaaten in gleicher Weise galten:
3. eine neue selbstkritische und dialogische Erinnerungskultur und
4. die konsequente Umsetzung der Menschenrechte.
Nicht alle Nationen sind notwendig auf autoritäre Politik, ethnische Homogenität und den Ausschluss von Fremden ausgerichtet. Es gibt seit dem 18. Jahrhundert wichtige Beispiele für liberale Nationen als konstitutionelle Demokratien, die in ihrer Verfassung nicht den Heiligen Gral der Nation sondern die Freiheit und Würde des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das autoritäre Bekenntnis zur Nation dagegen sprengt den Rahmen der EU. Nachdem Europa in Staaten wie Ungarn oder Polen zunächst als eine Stütze für die Sicherung und Eigenständigkeit des Staates gefeiert worden war, ist Europa dort inzwischen zum Feindbild geworden - weil das Land den autoritären Typ der Nation wiederherstellen möchte, der auf Stolz und Ehre des Kollektivs gegründet ist. Dieses nationale Selbstbild wird von oben politisch und pädagogisch verordnet, und nicht von den freien Bürgern des Landes definiert. Der Staat monopolisiert die Medien und entscheidet über das passende Geschichtsbild. Wer Kritik übt, kommt in den Medien nicht mehr zu Wort oder wird als unpatriotisch diffamiert, denunziert, zensiert und verfolgt. Gegen diesen anti-demokratischen Typ der Nation gilt es, nicht die Nation als solche abzuschaffen, sondern die Erfolgsgeschichte der EU zu erzählen, um die demokratischen Nationen zu stärken und zu pflegen, was sie ausmacht: historische und politische Bildung, ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement, die Menschenrechte, die Unterstützung von Vielheit und den Kampf um soziale Gerechtigkeit.
Europa, so meine These, muss die Geschichte kennen, aus der es nach den heißen Weltkriegen und dem Kalten Krieg hervorgegangen ist. Ohne eine europäische Verständigung über diese Geschichte und ihre bis heute anhaltenden Folgen ist es unmöglich, einen gemeinsamen Richtungssinn – und nichts anderes heißt ja Orientierung - in der aktuellen Krise zu gewinnen und eine gemeinsame Zukunft zu imaginieren. In dieser Krise ist gerade das Gegenteil von Nostalgie, feindseliger Abschottung und trotziger Abwehr gefordert: wir müssen in allen Generationen und Schichten lernen, das, was wir besitzen, zu teilen, die Erfahrungen und Standpunkte anderer anzuerkennen und vor allem auch für neue politische und ökologische Herausforderungen konstruktive Lösungen zu finden, wenn wir in Europa und der Welt Frieden bewahren und eine gemeinsame Zukunft haben wollen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann war von 1993 bis 2014 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz. Sie veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur englischen Literatur, zur Geschichte des Lesens und zum kulturellen Gedächtnis. 2018 wurde ihr, zusammen mit ihrem Mann, Jan Assmann, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.