Freiwillige berichten - von Europa

Ein Freiwilligendienst mit ASF sensibilisiert durch die Auseinandersetzung mit europäischer Gewaltgeschichte für die Gegenwart und
die existenziellen Werte der europäischen Gemeinschaft: Frieden, Vielfalt und Solidarität. Doch soziale Ungleichheit, Multikulturalität und rechtsextreme und nationalistische Tendenzen und Akteur*innen gefährden die europäische Einheit.
Der aktuelle Freiwillige Matthew Rosenblatt und der ehemalige Freiwillige Leo Buddeberg reflektieren über Europa und die EU.

Die vielen Sprachen Europas - Fundament für Zivilisation

Es gibt nicht nur Stereotype von Europäer*innen gegenüber Amerika – auch umgekehrt hat man sich Meinungen gebildet. Dass diese nicht stimmen
müssen, hat Matthew Rosenblatt festgestellt.

Wenn ich an Europa denke, denke ich an die biblische Geschichte „Der Turmbau zu Babel.“ Diese Geschichte legt nahe, dass alles möglich sei, wenn die Menschheit unter einer Sprache vereint wäre - mit vielen Sprachen jedoch seien Menschen zu ständigen Konflikten verurteilt. In vieler Hinsicht scheint mir dies die perfekte Allegorie für Europa zu sein, angesichts seiner langen, blutigen Geschichte. Als Amerikaner, der hier lebt, habe ich jedoch festgestellt,  dass für das zeitgenössisches Europa diese Fabel nicht mehr so recht taugt. In den letzten sechs Monaten sah ich mich immer wieder mit zwei Stereotypen gegenüber der europäischen Einheit und Vielfalt konfrontiert.

Das eine lautet, dass Europa aus homogenen Ländern besteht. Für Amerikaner nämlich wird europäische Homogenität unter der Prämisse unterstellt, dass jeder in jedem Land ein weißer Mensch ist und in derselben traditionellen Kultur lebt. Dies aber spiegelt eine sehr amerikanische Wahrnehmung der Homogenität wider, da Sprache auch in Europa Quelle und Ausdruck der Vielfalt sein kann und ist. Oft reise ich von meinem Wohnort in der Oberpfalz zu meinem Freund in Schwaben. Obwohl dies innerhalb des gleichen Bundeslandes liegt, bedeutet es das Umschalten zwischen radikal unterschiedlichen Dialekten. Dies ist eine schwierige Alltagserfahrung für jemanden, der kein Muttersprachler ist, geschweige denn ein Deutscher. Im Gegensatz dazu haben Amerikaner einige regionale Unterschiede, aber die meisten jungen Amerikaner kommen gut mit ihrer einen Landessprache durch.

Das zweite oft bemühte Stereotyp ist, dass die Europäer den Multikulturalismus nicht mögen. Und auch das spiegelt eine amerikanische Perspektive wider. Dies hat mit einem bemerkenswerten europäischen Phänomen zu tun, das mir deutlich geworden ist: das Streben nach Konsens als einer  Grundlage für eine multikulturelle Gesellschaft. Dem politischen System der Koalitionsregierungen, das in den meisten europäischen Ländern präsent ist, ist offenbar die Idee immanent, dass diese Parteien letztlich Kompromisse miteinander auszuhandeln haben. In Amerika hingegen bedeutet das Zwei-Parteien-System, dass jede Partei in jeder Saison um Hegemonie kämpft und vor allem auch für ihre eigenen Forderungen und Ziele. Diese politischen Systeme spiegeln sich auf sozialer Ebene wider: In Gesprächen mit Europäern fällt mir oft auf, dass diese versuchen, eine gemeinsame Basis zu finden. Während in den USA, insbesondere in unserem Universitätssystem, zunehmend weniger Menschen einen Konsens suchen, als vielmehr das Gefühl, „richtig“ zu sein.

Suche nach Konsens ist selten einfach und erfordert oft Opfer und harte Arbeit. Während Europa und die Europäische Union zunehmend von denjenigen bedroht respektive in Gefahr gebracht werden, die Einwanderung und Multikulturalismus ablehnen, ist es interessant, rückblickend festzustellen, dass Europa immer ein komplexer multikultureller Kontinent mit radikalen kulturellen und sprachlichen Unterschieden war. Wenn also – um zu dem Bild zurückzukehren - „der Turmbau zu Babel“ üblicherweise so gelesen wird, dass Vielfalt irgendwie eine „Bestrafung“ für die Menschheit darstellt, hat doch Europa überzeugend gezeigt, dass Menschen eine Zivilisation auf der Grundlage von Vielfalt aufbauen können.   

Matthew Rosenblatt ist 29 Jahre alt und arbeitet seit September 2018 als Deutschland- ASF-Freiwilliger im ehemaligen Konzentrationslager Flossenbürg/Bayern. Er kommt aus Boston, Massachusetts und hat Psychologie und Geschichte an der University of Colorado Boulder und der Brown University studiert.

              

Die EU hat ihr soziales Versprechen gebrochen

Die Ungleichheit in der Staatengemeinschaft ist immer noch frappant – sie ist ein Grund, weswegen die Vision eines geeinten Kontinents zu scheitern droht.

Wer im Bewusstsein der Shoa einen Dienst mit Aktion Sühnezeichen für den Frieden leistet, der oder die wird in dieser Zeit wohl in vielerlei Hinsicht sensibilisiert. Existenzielle Werte wie Frieden, Multilateralismus und Völkerverständigung verlieren an Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit, diese Errungenschaften zu verteidigen und für ihren Erhalt einzustehen - auf eine Art und Weise, die über pure Lippenbekenntnisse hinausgeht.

Jene existenziellen Werte, die dem Engagement von ASF zu Grunde liegen, verkörpert die Europäische Union seit 70 Jahren. Kurz vor den Europawahlen steht diese unter enormem Druck: sie wirkt wie im Sog erstarkter nationalistischer Interessen. Zwar existieren nirgends, auch nicht in den rechts(radikal) regierten Mitgliedsstaaten wie in Polen oder Österreich, aktive Mehrheiten für die Zerschlagung der Union. Doch droht ihr durch die Zunahme nationalistischer Interessen eine langfristige Umgestaltung, die wohl von europäischen Grundüberzeugungen wie Solidarität, Weltoffenheit und supranationaler Verantwortung wenig bis gar nichts übrig lassen würde. Die inhumane Abschottungspolitik der „Festung Europa“ lässt erahnen, wie eine solche Perspektive aussähe.

Die Ursachen für diese Rückentwicklungen der europäischen Integration sind vielfältig und kaum überschaubar. Beim Blick über den deutschen Tellerrand wird jedoch einer der möglichen Gründe für zunehmenden Nationalismus und Abkehr von europäischem Zusammenhalt besonders deutlich: die sich weiter verstärkende strukturelle Ungleichheit. Das Versprechen, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Mitgliedsstaaten, hat die EU gebrochen. 

Anstelle einer sozial ausgeglichenen Staatengemeinschaft erleben wir in Europa ein massives Wohlstandsgefälle. Während Deutschland sich am Rande der Vollbeschäftigung bewegt, beträgt in anderen Regionen die Arbeitslosenquote nahezu 20 Prozent – die Jugendarbeitslosigkeit das Doppelte. Unterschiedliche Arbeitsbedingungen und Sozialstandards in den einzelnen Mitgliedsstaaten manifestieren die europäische Ungleichheit und vergrößern die Armutsgefährdung der Menschen in wirtschaftlich schwachen Staaten. Und die Hoffnung auf die Einführung entlastender europaübergreifender Sozialsysteme, die die logische Ergänzung des gemeinsamen Marktes und der Freizügigkeit wären, wird seit langem enttäuscht. Dass diese Ungleichheit tiefe Gräben zieht und europäischer Integration entgegensteht, liegt auf der Hand: sie betont nationale Grenzen und polarisiert. Die Aufmerksamkeit der „Gewinner-“ und „Verliererstaaten“ konzentriert sich auf ihre nationalen Schicksale – und nicht auf zunehmendes Mit- und Füreinander.

Die Europäische Union hat einst einen beinahe ewigen Kriegsherd in ein ambitioniertes Projekt für Frieden, Multilateralismus und Völkerverständigung verwandelt. Damit diese Vision eines geeinten, demokratischen Europas von Bestand sein kann, ist es höchste Zeit, dass die Union ihr jahrzehntealtes Versprechen für sozialen Ausgleich einlöst. Es ist eine einfache Rechnung: Wirtschaftsstarke Staaten müssen sich für solidarische Ideen öffnen. Geschieht das nicht, werden wir weitere Schritte auf den „Point-of-no-return“ zu machen – und den erkennt man immer erst, wenn es zu spät ist.

Leo Buddeberg, geb. 1999, war 2017/18 Freiwilliger im Belgischen Staatsarchiv in Eupen. Seit seiner Rückkehr studiert er Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ist derzeit studentischer Mitarbeiter in der Freiwilligenkoordination bei ASF.

Der Freiwilligendienst von Leo wurde gefördert durch das Programm Erasmus+ JUGEND in Aktion.

 

 

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