Interview mit Arne Lietz, Abgeordneter im Europaparlament, zu Rechtsextremismus und Nationalismus in der EU
Johanna Neumann: Sie haben vor etwa 20 Jahren einen Friedensdienst für ASF in Boston geleistet. Was haben Sie davon für Ihre heutige Tätigkeit mitgenommen?
Arne Lietz: „Ganz viel habe ich mitgenommen! In meinem ASF-Jahr habe ich in einer Lehrfortbildungsorganisation zu den Themen Rassismus, Holocaust und Genozid Lehrmaterialien erstellt und zum Thema Vergebung und Versöhnung gearbeitet - und jetzt arbeite ich in der aktuellen politischen Situation zu Populismus, Rassismus, modernem Antisemitismus. Diese damalige Auseinandersetzung hat mich tiefengeprägt und es ist ganz gut, das im Rucksack zu haben.
Rechtspopulistische Strömungen in Ländern der EU werden stärker. Und eine Studie der EU-Kommission hat ergeben, dass neun von zehn europäischen Jüdinnen und Juden den Eindruck haben, dass der Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat…
Wir sehen eine besorgniserregende Entwicklung; etliche Staaten sind nationalistisch geprägt. Ich komme aus Sachsen- Anhalt und dort haben wir im Landtag 24 Prozent AFD- Repräsentanten. Diese Partei hat als Anti-Europa-Partei begonnen und ist mittlerweile rechtsextrem. Diese Situation haben wir in vielen europäischen Ländern. Wir sehen Rechtspopulismus aber auch in Frankreich, in den Niederlanden, in Österreich, wo mittlerweile eine rechtskonservative Regierung am Start ist.
Wir haben im Parlament viele Debatten, kritische Auseinandersetzungen insbesondere mit der Partei von Victor Orban in Ungarn. Orban tritt inzwischen offen antisemitisch auf. Da ist es extrem wichtig, Flagge zu zeigen, keinen Antisemitismus zuzulassen. Parteien, die über diese rote Linie hinausgehen, müssen wissen, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden – zum Beispiel durch einen Ausschluss aus der Konservativen Parteienfamilie. Denn ihre Haltung lässt sich nicht vereinbaren mit konservativen christlichen Werten, wofür die Europäische Volkspartei (EVP) steht. Es ist ganz wichtig, hier einen klaren, harten Kurs zu fahren, Stellung zu beziehen und zu sagen, für welche Werte, Rechte und Errungenschaften man steht.
Wie werden Rechtspopulismus und Antisemitismus in anderen Ländern thematisiert - wie nehmen Sie das wahr?
Am Beispiel Ungarns können wir es ja sehen. Da ist zum Beispiel George Soros, der in Budapest unter anderem Gründer und Sponsor einer renommierten Universität war, von Orban verfolgt worden – die Zentraleuropäische Universität (CEU) ist von Schließung bedroht. Wir haben im EP deutlich gemacht, dass wir für die Freiheit der Lehre eintreten, das ist ein wichtiges Recht. In Frankreich hat es jüngst viele auch antisemitische Anschläge gegeben. Dagegen muss die Politik Flagge zeigen. Das Thema Antisemitismus muss zum Beispiel in der Bildungsarbeit eine viel größere Rolle spielen, aber wir haben viele europäische Länder, die das hinten runterfallen lassen. Und wir müssen die jüdische Community in Europa unterstützen. Und wir stellen uns beispielsweise gegenüber dem Iran hinter den Staat Israel. So haben wir eine Resolution gemacht im EP, in der wir die Anerkennung Israels fordern, oder klarmachen, dass wir keine Aggression gegenüber Israel dulden werden.
Wie sehen Sie die Rolle von ASF in der aktuellen politischen Situation?
Für mich ist es total spannend, als ich ins EP kam, dass ich auf Menschen treffe, die mit ASF im Kontakt waren oder selber Freiwillige waren. Das zeigt mir, dass die Menschen, die mit ASF unterwegs sind, sich aktiv in die Gesellschaft einbringen, Brückenköpfe sind. Sie stehen auch dafür, dass es ein anderes Deutschland gibt, dass es immer wieder neue deutsche Generationen gibt, die vor dem Hintergrund der Geschichte Verantwortung übernehmen und sich einbringen, und zwar in allen Bereichen der Gesellschaft. Dieses Netzwerk ist extrem wichtig, das Sühnezeichen-Freiwillige pflegen.
Schon heute sitzen Abgeordnete rechtspopulistischer Parteien im Europaparlament. Wie nehmen Sie diese wahr?
Ich nehme das wahr und ich reagiere darauf. Einmal hat in einem polnischen Sender ein Mitarbeiter ein T-Shirt mit rechtsextremer Aussage getragen – ich habe darauf bestanden, dass er den Raum verlässt, bevor wir das Gespräch beginnen. Das ist der tägliche Kampf gegen Rechtsextremismus, der tägliche Kampf gegen rechtsextreme Sprüche, der tägliche Kampf auch in den Ausschüssen, in denen man Paroli geben muss, wenn so etwas kommt. Es gibt auch die Regel, wenn jemand rechtsextreme Sprüche macht oder frauenfeindliche oder rassistische Sprüche, dann werden die Leute nicht nur verwarnt, sondern sie bekommen eine Strafe. Das ist wichtig, dass wir eine Kultur des Dialogs erhalten. Nichtsdestotrotz sitzen hier rechtsextreme Parteien.
Rechtspopulisten sprechen oft von einem Europa der Vaterländer und wollen dabei die Zusammenarbeit stärker beschränken, beispielsweise nur noch auf das Feld der Wirtschaft…
Ich finde den Ansatz verkehrt, weil wir dann zurück in die Nationalismen kommen. Und die Weiterentwicklung von Nationalismus heißt unter historischer Perspektive auch Krieg. Wir wollen keinen Nationalismus mehr. Deswegen ist es auch gut, dass wir im EP so überparteilich zusammenarbeiten. Wir müssen europäische Kompromisse finden und auch streiten. Dafür ist so ein parlamentarischer Raum wichtig. Dafür ist aber auch das Zusammenkommen in der Kommission oder im Rat zwischen den Mitgliedsstaaten so wichtig. Das ist ein wichtiges Instrumentarium, das noch weiterentwickelt werden muss und wo Nationalismus nicht greifen kann. Wir wollen auch in Zukunft ein Europa des Miteinanders, ein vereinigtes Europa haben. Das ist der politische Kampf, den wir aktuell haben, zur Europawahl, aber auch darüber hinaus.
Im Mai sind Wahlen zum Europäischen Parlament – was hoffen und was befürchten Sie?
Ich hoffe, dass wir maximal pro-europäische Parteien ins EP gewählt bekommen. Und ich hoffe, dass die Menschen zur Europawahl gehen, wir haben ja oft eine ganz geringe Wahlbeteiligung. Die Hoffnung ist natürlich, dass wir Nationalisten, Populisten, Rechtsextreme, die jetzt schon knapp ein Viertel des Parlaments ausmachen, dass die geschwächt und nicht gestärkt werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Johanna Neumann, Freiwillige im CegeSoma (Centre for Historical Research and Documentation on War and Society), und Convivial – Mouvement d’insertion des Réfugiés in Brüssel. Sie ist ASF-Freiwillige des Jahrgangs 2018- 2019
Arne Lietz (* 23. Juli 1976 in Güstrow) ist ein deutscher Politiker der SPD. Bei der Europawahl 2014 wurde er in das Europäische Parlament gewählt.