Über die Lage der Reformation

Welche Themen, welche Diskussionen, welche Debatten begleiten das 500. Reformationsjahr? Einblicke in ein Jubiläum, das aufpassen muss, nicht zu kitschig zu werden, und stattdessen zu echtem Gedenken und Erinnern einlädt.

Lange hat sich die protestantische Welt auf das Jubiläumsjahr 2017 vorbereitet. Eine ganze Dekade lang wurde nachgedacht, geplant und diskutiert, wie dieses Jubiläum angemessen zu feiern sei. Schon jetzt sind die Beiträge, Publikationen und Veranstaltungen unüberschaubar. Keine Frage: Die 500-jährige Wiederkehr der Veröffentlichung der 95 Thesen von Martin Luther schlägt Wellen. Im Jahr 2017 werden wir Luther und der Reformation an vielen Orten – nicht nur in Wittenberg – begegnen.

Dass dieses Vorhaben von heftigen Diskussionen und kontroversen Debatten begleitet wird, kann kaum verwundern. So vielstimmig wie der Protestantismus sich derzeit darstellt, so unterschiedlich sind die Urteile über das frühe 16. Jahrhundert. Ist die Reformation in erster Linie eine kirchliche Erneuerungsbewegung, die »zufällig« zur Kirchenspaltung geführt hat? Ist sie ein Transformationsprozess, der mit innerer Konsequenz abgelaufen ist, oder ist sie nichts anderes als ein gewaltiges Missverständnis? Ist sie ein theologisches beziehungsweise ein geistliches Phänomen oder eben doch ein sehr »weltlich Ding« mit vorrangig machtpolitischen, gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen?

Je nach eigenem Standpunkt fallen die Antworten unterschiedlich aus. Das Gedenken in »unübersichtlichen Zeiten« ist klug beraten, wenn es die glatten und einfachen Antworten vermeidet. Auch der Rückblick auf die Jubiläumsfeiern der vergangenen Jahrhunderte lehrt demütige Bescheidenheit. Aus dem Abstand wird überdeutlich, wie zeitgebunden (und damit in die eigenen Vorurteile, Interessen und Bilder verstrickt) die jeweiligen Erinnerungsnarrative gewesen sind. Ob man in Luther den Heroen des Deutschtums erblickte oder in der nachnapoleonischen Zeit zur Mäßigung des konfessionellen Hochmuts von Staats wegen aufrief, immer spiegeln sich im Erinnern auch Wunsch- und Idealbilder der eigenen Zeit, die auf Luther beziehungsweise auf die Reformation zurückprojiziert werden. Mit historischer Genauigkeit hat das zumeist nicht viel zu tun.

Umgekehrt lässt diese Einsicht auch Rückschlüsse auf die Zeitgebundenheit unseres Gedenkens und Feierns zu. Wie man in 100 Jahren auf uns blicken wird, übersteigt unsere Phantasie und wahrscheinlich auch unsere Möglichkeiten zur Selbstkritik und wird mehr über uns aussagen, als uns vielleicht lieb ist. »Es ist ein Riesenerfolg, dass man 2017 evangelisch und zugleich ökumenisch sein kann«, sagt Volker Leppin, Professor für Reformationsgeschichte in Tübingen in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst im Februar 2017.

Und führt weiter aus: »Die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland, Anm. d. Redaktion) hat einen großen Lernprozess hinter sich gebracht, und meine Zufriedenheit ist dabei gewachsen. Eine Zeitlang hat man von kirchlicher Seite sehr danach geschaut, wie man sich innerhalb der medialen Landschaft platzieren kann. Inzwischen ist man mehr auf die Inhalte gekommen. ›Rechtfertigung und Freiheit‹ war ein Markstein, dazu die ökumenischen Aussagen mit der katholischen Kirche.«

Trotzdem bleiben auch Fragen. Und das ist gut so. Es bleibt das Unbehagen, das Matthias Drobinski von der Süddeutschen Zeitung artikuliert: »Kann man in Deutschland einen Mann feiern, der den Juden wünschte, ›dass man ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anzünde‹? Einen Mann, der Muslimen, Katholiken und aufständischen Bauern Pest, Tod und Teufel an den Hals wünschte? Darf man fröhlich eines Jahrhunderts gedenken, das darin endete, dass ein furchtbarer Krieg samt Seuchen und Hunger ein Drittel der Menschen in Europa dahinraffte?« Über die »dunkle Seite« der Reformation und vor allem des Reformators Martin Luther ist eine heftige Auseinandersetzung entbrannt, die neben Verletzungen auch manche Klärung brachte. Immerhin hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland im November 2016 ausdrücklich von »Luthers Schmähungen gegenüber Juden« distanziert und festgehalten, »dass seine [Luthers] Sicht auf das Judentum nach unserem heute erreichten Verständnis mit der biblisch bezeugten Treue Gottes zu seinem Volk unvereinbar ist.«

Was aber werden diese und andere notwendige Erklärungen ausrichten? Es wird trotz allem große Anstrengung brauchen, dieses Jubiläum nicht in Folklore und Kitsch versinken zu lassen, sondern zu einem echten Gedenken und Erinnern zu finden. Den Spuren nachzugehen, die vom 16. Jahrhundert in unsere Gegenwart führen, ist dabei ein lohnendes Unternehmen. Manches wird dabei zu entdecken sein: Zum Beispiel, wie Luthers Sprache und Bibelübersetzung bis in unsere Zeit hineinwirkt. Die Einsicht, dass sich der Mensch seine Gerechtigkeit nicht verdienen kann, sondern von Gott gerecht gemacht wird, ist wie Sand im Getriebe einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft.

Und schließlich ist da die Scham über die kirchliche Judenfeindschaft, die unserem Erinnern und Gedenken das Triumphale und Gloriose zu nehmen vermag. Wie Matthias Drobinski zu Recht sagte: »Das ist ja der Wert eines kulturellen und auch religiösen Gedächtnisses: Es gewinnt aus dem Vergangenen einen Deutungsvorrat für die Gegenwart. Es macht bewusst, was schon gesagt, gedacht und getan wurde. Es macht aber auch empfindlich gegenüber den Schatten der Vergangenheit, gegenüber dem Leid, der verletzten Menschenwürde.«

»Leidempfindliches Gedenken« – das kann in einer Zeit, in der die Tonlage insgesamt rauer wird und die Denkfiguren populistischer werden, zu einem Kontrapunkt und darin vielleicht zu einem Vorbild werden. 500 Jahre nach dem Thesenanschlag, 72 Jahre nach der Befreiung von Faschismus und Nationalsozialismus und nach mühsamen, schmerzhaften und verstörenden Erfahrungen in der Konfrontation mit der eigenen Geschichte und deren Wurzeln ist die Chance zu Umkehr und Neuanfang gegeben. Peter von der Osten-Sacken hat in seinem Vorwort zu »Ende einer Feindschaft – Beginn einer Freundschaft?

Martin Luther, Altes Testament und Judentum – Aufsätze und Vorträge«  an Yehoshua Amir erinnert, der bei einer Gedenkstunde für den 9. November 1938 seiner Hoffnung mit folgenden Worten Ausdruck verlieh: »Auch eure Glaubensgemeinschaft bekennt sich zu dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs. Zwei Jahrtausende ist der Weg unserer beiden Gemeinschaften ein Auseinander und Gegeneinander gewesen. Gebe Gott, dass der Historiker einer fernen Zukunft, wenn er das Grausige, von dem wir heute zu sprechen hatten, alles aufgezeichnet hat, seinen Bericht wird schließen können mit dem Wort von Abraham und Isaak: Und sie gingen beide zusammen 4.« Echtes Erinnern schließt das Entsetzen und Erschrecken mit ein. Insofern sind die Wege, die wir gemeinsam gehen wollen, nicht leicht, sondern schwer. Sie bringen Erschütterungen mit sich und lassen manches Selbstbild einstürzen. Ob am Ende solcher Wege Versöhnung und Frieden stehen, wird die Zukunft weisen. Die Aufgabe jedenfalls ist klar umrissen.

 

Gabriele Wulz, Jahrgang 1959, ist Theologin und Prälatin von Ulm. Sie ist Mitglied des Vorstandes von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

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