Eine Reise an die Außengrenzen der EU

ASF-Geschäftsführerin Jutta Weduwen berichtet im Interview von einer eindrücklichen Delegationsreise nach Griechenland, Mazedonien, Serbien und Italien, um sich ein Bild von der Situation geflüchteter Menschen zu machen.

Grafittis am Kulturzentrum Baobab in Rom.

© Thomas Lohnes/EPD

Grafittis am Kulturzentrum Baobab in Rom.

Sie haben kürzlich mit einer Delegation der Diakonie, der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und dem Prälaten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Reise an die Außengrenzen der EU gemacht. Was haben Sie dort erlebt und erfahren?

Die Delegation ist nach Griechenland, Mazedonien, Serbien und Italien gereist, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen. In Griechenland haben wir den Ort Idomeni an der mazedonischen Grenze besucht. Noch vor einigen Wochen kamen von hier dramatische Nachrichten. Viele Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, versuchen hier auf der sog. Balkanroute nach Mazedonien, Serbien und dann in die EU zu kommen. Die  Flüchtlingsgruppen stauten sich hier, es gab wenig und nur ehrenamtliche Versorgung vor Ort und die Flüchtlinge waren der Gewalt und Ausbeutung durch Schlepper ausgesetzt. Inzwischen hat sich die Lage etwas gebessert. Es gibt einen Grenzübergang bei Idomeni, der faktisch geöffnet ist und es gibt eine Reihe von Hilfsorganisationen, die Zelte aufgeschlagen haben und die Menschen auf der Flucht mit Essen, Regencapes, Decken und Medizin versorgen. Bis zu 6.000 Flüchtlinge kommen täglich hier an, meist mit Bussen aus Athen, wohin sie von den Inseln gelangt sind. Etwa alle zehn Minuten kommt ein Bus mit 50 bis 60 Menschen an. Sie gehen zu Fuß  über die Grenze, von dort bis zum nächsten Bahnhof in Mazedonien, der 3 km entfernt ist, um von dort, wenn es gelingt, einen Zug nach Serbien zu bekommen. Wir haben dann auch das erste Lager Preševo in Serbien hinter der mazedonischen Grenze besucht. Es ist ein kleiner Ort mit einer Bevölkerung von dreitausend Menschen. In dem Lager, das von einer serbischen diakonischen Einrichtung in Preševo betrieben wird, werden die Menschen registriert, medizinisch versorgt und mit Essen und Trinken ausgestattet, bevor sie dann versuchen, weiter nach Belgrad und in Länder der EU zu gelangen. 

In Zelten wie diesem halten sich die Flüchtlinge in Idomeni (Griechenland) auf.

© Thomas Lohnes/EPD

In Zelten wie diesem halten sich die Flüchtlinge in Idomeni (Griechenland) auf.

Hatten Sie Gelegenheit, mit den Menschen sprechen?     

Wir wurden von den Menschen vor Ort oft auf Englisch angesprochen. Die Menschen erzählten uns schnell ihre Geschichten und ihre Wünsche. Die meisten kamen aus Syrien oder aus dem Irak. Ein etwa dreißigjähriger Mann erzählte uns, dass er acht Jahre in England als Automechaniker gearbeitet hatte und dort auch eine Aufenthaltsgenehmigung hatte. 2012 ist er auf Wunsch seiner Familie nach Bagdad zurückgegangen, weil er die Lage friedlich einschätzte. Dort lernte er dann seine jetzige Frau kennen. Als die beiden an einem Abend ausgegangen sind, gab es auf das Haus der Familie einen Sprengstoffanschlag, bei dem andere Familienangehörige ums Leben kamen. Die Lage im Irak sei heute unerträglich, erzählte der junge Mann. Sein Ziel ist es, zurück nach Manchester zu kommen, wo er bis 2012 gelebt hatte und dann seine Frau nachzuholen. Er weiß aber, dass seine Aufenthaltsgenehmigung erloschen ist. Wir haben festgestellt, dass die meisten Flüchtlinge sehr wenig informiert waren. Sie hatten vage Vorstellungen vom Hörensagen oder über die sozialen Netzwerke, wohin sie wollten: nach GB, nach Deutschland, nach Skandinavien. Entweder, weil sie dort Menschen kennen oder weil sie gehört haben, dass die Aufnahmebedingungen gut sind. Sie wussten oft nicht, in welchem Land sie sich gerade befinden und über welche Route sie in ihr Zielland gelangen könnten. Die Flüchtlinge sind untereinander gut vernetzt über die sozialen Medien. So hören sie oft voneinander, wo gerade Durchlass zu finden ist. Gleichzeitig sind sie aber auch den Schleppern ausgeliefert, die ein engmaschiges Netz entlang der Fluchtroute bilden. Durch eine Mitarbeiterin einer griechischen Flüchtlingsorganisation konnten wir übrigens erfahren, dass der Iraker, den wir in Preševo trafen, zwei Tage später in Österreich gelandet ist. Ich wünsche ihm, dass er sein Ziel erreicht.

Schon bevor Hilfsorganisationen vor Ort waren, engagierten sich viele Ehrenamtliche wie hier für die ankommenden Flüchtlinge. vergrößern

© Thomas Lohnes/EPD

Schon bevor Hilfsorganisationen vor Ort waren, engagierten sich viele Ehrenamtliche wie hier für die ankommenden Flüchtlinge.

Wie haben Sie die Stimmung in der Bevölkerung erlebt?

Ich war sehr berührt von der großen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und griechischer Flüchtlingsorganisationen, die wir in Thessaloniki und Idomeni getroffen haben. Vor allem in der Zeit, als noch keine Hilfsorganisationen vor Ort waren, haben sich viele Ehrenamtliche gefunden, die Essen gekocht, Spenden gesammelt und Hilfsunterkünfte bereit gestellt haben. Dafür, dass das Land ökonomisch gerade so gebeutelt ist, haben wir eine großartige Hilfsbereitschaft und ein großes Engagement erlebt. Uns wurde aber auch von Rassismus und von organisierten rechtsextremen Übergriffen gegenüber Flüchtlingen berichtet. Die griechische Partei „Goldene Morgenröte“ agiert gegen Flüchtlinge und findet damit wachsenden Zuspruch, besonders auch dort, wo Flüchtlinge anlanden.

Auch Serbien hat keine üppige Ausgangslage, um Flüchtlinge zu unterstützen. Im Land leben selber noch viele Binnenflüchtlinge aus dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren. In Preševo, wo sich das Lager befindet, halten sich täglich mehrere tausend Flüchtlinge auf, oft ist die Zahl der Flüchtlinge, die dort für mehrere Stunden sind, höher als die Zahl der Einwohner. Und das tagtäglich seit langer Zeit. Das Leben hat sich dort wirklich komplett verändert. Dennoch hörten wir nichts von Protesten oder Übergriffen aus der Bevölkerung. Ein Polizist berichtete uns, dass die Bevölkerung das Lager gut aufnimmt. Auch das wird nicht immer stimmen, es wird auch Menschen geben, die Flüchtlingen feindlich gegenüber stehen und die ihre bedürftige Lage ausnutzen, aber wir haben keine massiven Proteste oder Konflikte mitbekommen. Dies finde ich wichtig zu betonen, weil es bei uns ja oft schon Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte gibt, bevor die Menschen überhaupt da sind und mögliche Probleme herbeigeredet oder vorgeschoben werden und von rechtspopulistischen und rechtsextremen Akteuren instrumentalisiert werden.

Menschen aus Somalia und anderen Ländern Ostafrikas planen in Italien das weitere Vorgehen.

© Thomas Lohnes/EPD

Menschen aus Somalia und anderen Ländern Ostafrikas planen in Italien das weitere Vorgehen.

Die Reise ging dann weiter nach Rom. Was genau hat die Delegation dort gesehen und erlebt?

In Rom haben wir viele Vertreter_innen aus Unterstützungsinitiativen für Flüchtlinge getroffen und auch das Kulturzentrum Baobab besucht. Nachdem zwei große Camps für Flüchtlinge in Rom geräumt wurden, hat das Kulturzentrum vor einigen Monaten Platz und Unterstützung für Flüchtlinge organisiert, die von dort weitereisen wollen. Die meisten von ihnen kommen aus Eritrea, Somalia, Äthiopien oder dem Süd Sudan. Wenn es ihnen überhaupt gelingt, nach Italien zu gelangen, sind sie oft schon viele Monate, manchmal sogar Jahre unterwegs. Wir kennen die Geschichten über die Schlepper, die großen Gefahren und die vielen Menschen, die den Weg nach Europa nicht schaffen. Deutlich wurde in den Gesprächen mit den Menschen im Baobab, dass sie von der langen Flucht sehr mitgenommen, oft sogar gebrochen sind. Im Baobab erhalten sie Versorgung und Kleidung. Die meisten sind etwa drei Tage hier. Sie versuchen dann, wenn sie das Geld dafür haben, Tickets mit dem Bus oder dem Zug nach Norditalien zu bekommen, um von dort nach Österreich, Deutschland oder Skandinavien weiter zu reisen. Im Baobab landen auch viele allein reisende Minderjährige. Sie sind oft gar nicht über ihre Rechte informiert, die einen besonderen Schutz für sie vorsehen. Als wir das Zentrum besucht haben, fand gerade eine Beratung durch eine ehrenamtliche Anwältin statt, die besonders minderjährige Flüchtlinge über ihre Rechte aufklärte und ihnen mit einer Europakarte legale Fluchtwege aufzeigte.

Jutta Weduwen und Bischof Markus Dröge unterhalten sich in Preševo mit einem Iraker. vergrößern

© Thomas Lohnes/EPD

Jutta Weduwen und Bischof Markus Dröge unterhalten sich in Preševo mit einem Iraker.

Die EU will in den kommenden Monaten Registrierungszentren an den Grenzen einrichten. Was ist Ihre Einschätzungen hierzu?

Wir haben viel mit den Menschen vor Ort über sogenannte Hotspots gesprochen. Sie sollen an den Außengrenzen bzw. an den Orten eingerichtet werden, wo viele Flüchtlinge anlanden. Ziel ist, dass die Menschen registriert werden und dass dort auch darüber entschieden wird, wer von vornherein keine Berechtigung hat, Asyl zu beantragen. Diese Menschen werden dann an den Außengrenzen abgewiesen. Dies ist der Knackpunkt. Wenn Menschen hier abgewiesen werden, wird im Schnellverfahren über ihre Menschenrechte entschieden. Das ist nicht angemessen. Darüber hinaus würden an den Grenzen wieder Abschiebesituationen entstehen, die verheerenden Bilder davon haben wir vor allem aus Griechenland ja im Kopf. Die Einschätzung der Flüchtlingsinitiativen vor Ort ist, dass die Flüchtlinge dann diese Hotspots meiden würden und weiter versuchen würden, auf nicht legalem Wege in die EU bzw. in ihre Zielländer zu gelangen. Dies würde vor allem den Schleppern in die Tasche spielen und würde die Flüchtlinge Ausbeutungen und weiterhin großen Gefahren aussetzen. Wenn es darum geht, geflüchtete Menschen  zu schützen und ihren Asylanspruch umfassend und sensibel zu prüfen, sind Hotspots nicht geeignet. Wichtig ist aber, neben der Versorgung und dem Schutz, gute Beratungszentren an den Fluchtrouten zu installieren, wo die Flüchtlinge über die Wege und ihre rechtlichen Möglichkeiten aufgeklärt werden, ohne sie damit schon abzuweisen.

In Serbien, das nicht zur EU gehört, werden die Flüchtlinge registriert.

© Thomas Lohnes/EPD

In Serbien, das nicht zur EU gehört, werden die Flüchtlinge registriert.

Was kann und sollte die Rolle von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste sein?

Wir müssen uns auf vielen Ebenen für die Rechte von Flüchtlingen und eine gute Willkommenskultur einsetzen und tun dies auch schon an vielen Stellen. Derzeit arbeiten sieben Freiwillige in verschiedenen Ländern in Flüchtlingsorganisationen, viele weitere haben mit Flüchtlingen in der sozialen Arbeit zu tun. Wir wollen den Anteil der Arbeit in Flüchtlingsprojekten ausbauen und werden uns  an allen uns möglichen Stellen dafür einsetzen, dass eine Teilhabe von Flüchtlingen gestärkt wird. Wir wollen uns z. B. bemühen, dass es auch unter den Freiwilligen, die von uns entsandt werden, Menschen mit Fluchthintergrund gibt.

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste hat, vor allem vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, eine besondere Rolle darin, sich für geflüchtete Menschen einzusetzen und dies von den politischen und gesellschaftlichen Akteuren zu fordern. Die Aufnahme von Flüchtlingen kann nicht daran gebunden sein, ob die Flüchtlinge uns gerade nützen oder nicht. Menschenrechte können nicht sinken, wenn zu viele Menschen sie in Anspruch nehmen wollen.

In unseren Freiwilligendiensten und in Sommerlagern werden wir uns weiter intensiv mit dem Thema Flucht beschäftigen und uns bemühen, Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Ansässigen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Flüchtlinge brauchen Schutz und Unterstützung, aber es ist auch wichtig, sie als Gleichberechtigte zu behandeln, die Ideen und Kapazitäten und ihre Vorstellungen einbringen können und wollen. Sie sind ja auch nicht nur „Flüchtlinge“, sondern Menschen mit individuellen Geschichten, Persönlichkeiten, Leidenschaften und Kompetenzen.

Welche Erfahrungen aus ASFs bisheriger Arbeit, z. B. im Projektbereich Interkulturalität, kommen hier zum Tragen?

Der Projektbereich Interkulturalität macht seit vielen Jahren Bildungsprogramme im Themenfeld „Geschichte und Vielfalt“. In den Seminaren „Stadtteilmütter auf den Spuren der Geschichte“ setzen wir uns mit der NS-Geschichte und mit den Biografien der Teilnehmerinnen, also der Vielfalt der Geschichten in der Einwanderungsgesellschaft, auseinander. Unter den Stadtteilmüttern, Frauen mit Migrationshintergrund, die zu Familienberaterinnen ausgebildet werden, gibt es immer auch Frauen, die irgendwann einmal aus ihrer Heimat fliehen mussten, aus dem Libanon, aus Eritrea, aus Sri Lanka, aus den ehemaligen jugoslawischen Staaten. Wir überlegen nun, diese Seminare auch für kürzlich zugewanderte, geflüchtete Menschen anzubieten. Dabei wird es immer auch darum gehen, die Geschichten der Flucht, des Ankommens, des Hierseins auch in der Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln und damit die Akzeptanz für Vielfalt, Einwanderung und Flucht zu steigern.

Wir erleben gerade in Deutschland und vielen anderen Ländern eine große Hilfsbereitschaft zur Unterstützung von Flüchtlingen. Dies stimmt uns sehr optimistisch. Gleichzeitig nehmen aber in allen Ländern, so auch in Deutschland, die rechtsextrem motivierten Übergriffe auf Flüchtlinge zu. Seit Beginn des Jahres gab es rund 350 gemeldete Übergriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten, das Dunkelfeld ist groß. Wir müssen auf diese rassistischen Bewegungen hinweisen und versuchen, vor allem auch in der Mitte der Gesellschaft, wo es auch Vorbehalte und Vorurteile gibt, durch Bildungsprogramme und durch Informationen zu wirken. Hier ist die Arbeit der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche + Rechtsextremismus sehr wichtig, die ASF mit gegründet hat.

Die Rolle von ASF liegt also darin, eine politische und gesellschaftliche Stimme zu sein, die sich für eine Willkommenskultur, das umfassendes Recht auf Asyl und die Teilhabe von geflüchteten Menschen einsetzt. Gleichzeitig können wir mit unserer Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit eine Sensibilität für die Gefahren des ansteigenden Rassismus gegenüber geflüchteten Menschen schaffen und dagegen wirken.

Die derzeitige Zuwanderung bedeutet eine Herausforderung für alle Gesellschaften, aber es liegt darin auch die große Chance, unsere Einwanderungsgesellschaft visionär und nicht nur reaktiv zu gestalten.

Das Interview führte Lena Altman, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

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