© Kate Thomas; IRIN; www.irinnews.org
Flucht übers Mittelmeer nach Lampedusa
Der aktuelle Blick auf die Krisenregionen u.a. in Nordafrika und Somalia zeigt deutlich: Europa und damit auch Deutschland halten sich weitestgehend fern beim Flüchtlingsschutz. Von den mehr als eine Million Flüchtlingen aus Libyen, darunter Transitflüchtlinge u.a. aus Äthiopien, Somalia und Eritrea, Arbeitsmigrant_innen und Libyer_innen, die vor allem in Tunesien und Ägypten aufgenommen wurden, hat sich die EU gerade einmal zur Aufnahme von 800 Personen bereit erklärt.
Eine Aufnahme von Flüchtlingen aus dem größten Flüchtlingslager der Welt Dollo Ado ist nicht vorgesehen. Dabei fordern Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen seit langem die Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Personen aus den Erstzufluchtsgebieten.
Geschlossene Grenzen
In den Medien und bei den politisch Verantwortlichen stoßen diese menschenrechtlichen Forderungen allerdings keineswegs auf Zustimmung. „Kaum hat die erste Welle Italien erreicht, da werden in Deutschland schon wieder die Trommeln für eine rasche und unbürokratische Aufnahme der Flüchtlinge gerührt. Die lautesten Appelle kommen von Unterstützerorganisationen aus der Flüchtlingsberatung, die ihre wirtschaftlichen Interessen gern hinter moralischen Argumenten verbergen. Als (gemeinnützige) Unternehmen leben sie nämlich auch von staatlichen Aufträgen zur Betreuung von Flüchtlingen und Asylbewerbern,“ schreibt beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 18. Februar 2011 in Bezug auf Menschen, die Tunesien während des arabischen Frühlings verließen.
Jedes Jahr vergeblich versucht das UN-Flüchtlingshilfwerk UNHCR von den Industriestaaten ausreichende Zusagen für das sogenannte Resettlement von Flüchtlingen zu erhalten. Die einmalige Aufnahme von 10.000 irakischen Flüchtlingen in den EU-Staaten vor zwei Jahren bildete da eine Ausnahme. Stattdessen setzt die EU auf die Stärkung von Frontex, der europäischen Grenzschutzagentur. Dementsprechend sind tausende von Toten im Mittelmeer die Kehrseite einer auf Flüchtlingsabwehr orientierten Politik. Über Griechenland und Italien ist seit langem bekannt, dass sie nur unzureichenden Flüchtlingsschutz bieten, kaum faire Asylverfahren durchführen und die soziale Versorgung von Flüchtlingen vernachlässigen. Die EU-Regelungen basieren aber auf der Fiktion, dass in jedem EU-Staat sowohl die Aufnahmebedingungen als auch die Asylverfahren ähnlich sind, also in jedem Land die gleichen Chancen für Flüchtlinge bestehen. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Es unterscheiden sich nicht nur die Aufnahmebedingungen – in Form von Unterbringung, Sozialleistungen, Beratung etc. – sondern auch die Anerkennungsquoten. So liegen die Anerkennungsquoten und damit die Bleiberechtschancen für Flüchtlinge in Griechenland und Polen bei 0,2 Prozent; für einzelne Herkunftsstaaten wie dem Irak lagen die Anerkennungschancen in Deutschland und Frankreich im Jahr 2009 dagegen bei bis zu 35 Prozent. Dennoch wird an dem Zuständigkeitssystem Dublin II festgehalten, das besagt, dass das EU-Land zuständig für die Asylverfahren ist, über welches die Einreise erfolgt ist.
Zudem fehlt es an einer solidarischen Beteiligung der Gesamt- EU an den Kosten und den logistischen Herausforderungen, die durch die steigenden Flüchtlingszahlen im Mittelmeerraum bei den Aufnahmestaaten entstehen. Deutschland beispielsweise übernimmt lediglich 150 Flüchtlinge aus Malta, die es bis dorthin geschafft haben.
Zu wenig Schutz
Da die meisten Flüchtlinge für eine legale Einreise kein Visum erhalten können, bleibt nur der gefährliche Weg der illegalen Einreise. Aber auch nach einer erfolgreichen Einreise und dem Stellen eines Asylantrags ist in Deutschland noch einiges ungelöst. Es fehlt an einer flächendeckenden, kompetenten und kostenlosen Verfahrensberatung. Besonders schutzbedürftige 17 Personen wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Kranke, Traumatisierte, Alleinerziehende, Schwangere und alte Menschen erhalten oft nicht die besonders benötigte Unterstützung.
Die UN-Kinderrechtskonvention, die seit dem 15. Juli 2010 in Deutschland vollständig gilt, ist beispielsweise nicht in das Ausländerrecht eingearbeitet worden. Zwar werden Flüchtlinge aus den Hauptherkunftsländern Afghanistan und Irak erfreulicherweise zur Zeit asylrechtlich häufiger anerkannt. Aber diejenigen, die in ihren Verfahren scheitern, sind dann die Menschen, die daraufhin verzweifelt versuchen, einen anderweitigen aufenthaltsrechtlichen Status und damit eine Lebensperspektive in Deutschland zu erhalten.
Auf gepackten Koffern „geduldet“
Zum 31. Dezember 2010 lebten nach Angaben der Bundesregierung 87.244 Menschen in Deutschland mit einer Duldung – davon waren 53.606 Personen länger als sechs Jahre und 14.119 länger als 15 Jahre in Deutschland. Ihre Situation ist besonders prekär. Duldung ist die zeitweilige Aussetzung der Abschiebung. Zusammengefasst bedeutet das Leben mit Duldung: Man besitzt keinen rechtmäßigen Aufenthalt, man bleibt zur Ausreise verpflichtet, man kann jederzeit abgeschoben werden, sprich: Man sitzt auf gepackten Koffern. Geduldet sein bedeutet: Leben mit den auch durch die Bundesregierung als verfassungswidrig eingestuften Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – die Betroffenen erhalten ca. 35 Prozent geringere Leistungen im Vergleich zu Hartz IV-Regelsätzen, eingeschränkte Gesundheitsversorgung, eingeschränkte Bewegungsfreiheit durch die so genannte Residenzpflicht und oftmals müssen sie in einer Gemeinschaftsunterkunft leben.
Erzwungene Rückkehr
Ein weiteres Problem stellen die Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsländern dar wie zum Beispiel mit der Republik Kosovo oder mit Syrien: Trotz der bestens bekannten anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Syrien und den gewaltsam unterdrückten Protesten bleibt das Rückübernahmeabkommen in Kraft und wird nicht ausgesetzt. Ausgesetzt werden nur die Asylverfahren – denn derzeit müsste Flüchtlingsschutz gewährt werden.
Eine echte Bleiberechtsregelung fehlt
Auch die jüngste Bleiberechtsregelung nach § 25a Aufenthaltsgesetz für gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende begünstigt nur diejenigen, die funktionieren. Funktionieren heißt: Der oder die Betroffene spricht gut Deutsch, ist nicht straffällig geworden und kann, zumindest perspektivisch, den eigenen Lebensunterhalt sichern. Diese zwar stichtagsfreie Regelung führt dazu, dass ein enormer Druck in den Familien entsteht. Die Eltern und minderjährigen Geschwister der antragsberechtigten Heranwachsenden erhalten keine Aufenthaltserlaubnis – und das kommt staatlich verordneter Familientrennung gleich. Die Familien der Jugendlichen haben nur bei Straffreiheit und vollständiger Lebensunterhaltssicherung eine Chance. Und wiederum werden Alte, Kranke, Traumatisierte und Arbeitsunfähige nicht vom Bleiberecht erfasst.
Wer lange hier lebt, muss bleiben können – das ist die Forderung der Flüchtlingsbewegung. „Lange“ bedeutet fünf Jahre. Wer fünf Jahre hier gelebt hat, sollte eine rechtlich zugesicherte Aufenthaltserlaubnis erhalten. Es geht nicht an, dass alle paar Jahre für eine neue Altfallregelung gekämpft werden muss.
Autor: Volker Maria Hügel, Jahrgang 1952, ist Rechtsreferent für die GGUA-Flüchtlingshilfe
in Münster. Er ist Mitinitiator der Aktion 302, Vorstandsmitglied von Pro Asyl e.V. und war Referent bei der ASF-Jahresversammlung 2011.