Im Gespräch mit den ASF-Freiwilligen Myriell Fußer und Helene Utpatel: Dietrich Franz Hespers.
ASF-Freiwillige recherchierten Lebenswege deutscher Flüchtlinge in Belgien zur Zeit des Nationalsozialismus und trafen deren Nachkommen.
Das letzte Mal sah Dietrich Franz Hespers seinen Vater im Sommer 1943. Da war er gerade 12 Jahre alt und besuchte ihn noch einmal im Gefängnis in Berlin-Plötzensee. „Ich habe keinen verraten“, das waren die letzten Worte, die Theodor Hespers an seinen Sohn richtete. Wenige Monate später, im September 1943, wurde er hingerichtet. Wie es zu der Verhaftung und Hinrichtung des Vaters kam und wie es für den damals 12-jährigen Dietrich dann weiterging, dazu befragten wir, ASF-Freiwillige in Belgien, den heute 80-jährigen Dietrich Franz Hespers persönlich.
Persönliche Schicksale statt Fakten
Das Gespräch fand im Rahmen des Projektes „Exil in Belgien – Lebenswege deutscher Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus“ statt. Die ASF-Freiwilligen in Belgien beschäftigten sich mit der Migrationsgeschichte von Deutschen, die sich zwischen 1933 und 1940 ins belgische Exil retteten. Im Mittelpunkt stehen die persönlichen Schicksale, mit denen Geschichte greifbarer und lebendiger gemacht werden kann. Dazu kontaktierten wir Familienangehörige der Flüchtlinge, um die Biographien und Einzelschicksale zu rekonstruieren. Die Projektidee wurde vom ASF-Projektpartner CEGES-SOMA entwickelt, einem internationalen Recherche- und Dokumentationszentrum für Kriege und zeitgenössische Gesellschaften in Brüssel.
Anhand einer Sonderfahndungsliste, die 1939 von der Gestapo erstellt worden war, wählten wir einige Namen von Flüchtlingen aus. Im Brüsseler Staatsarchiv recherchierten wir zu den Namen der Geflohenen die Daten in den Akten der belgischen Fremdenpolizei. Wo es möglich war, kontaktierten wir die Angehörigen der damals Geflüchteten, um mehr über die persönliche Geschichte hinter den nüchternen Zahlen und dürren Zeilen in den Akten zu erfahren. Es erforderte einigen Mut, sich mit einer persönlichen Bitte bei fremden Menschen zu melden oder sie anzuschreiben. Dafür waren wir danach umso begeisterter über die anregenden Telefonate, die dadurch zustande kamen. Wir erhielten fast ausschließlich positive Rückmeldungen und stießen auf eine große Offenheit, sodass uns bei unserer Suche immer wieder weitergeholfen wurde. Das hatten wir zu Beginn wirklich nicht erwartet.
Eine historische Persönlichkeit
Von seinem Schicksal und dem seiner Familie erzählte uns dann Dietrich Franz Hespers persönlich. Er lud uns dafür sogar zu sich nach Hause in Mönchengladbach ein. All die Anspannung, die sich aufgrund unserer Unsicherheit im Umgang mit einer „historischen“ Persönlichkeit aufgebaut hatte, verflog angesichts seiner Herzlichkeit schnell. „Ich genieße es, wenn junge Leute sich meine alten Geschichten anhören wollen,“ sagt der resolute 80-Jährige und erzählte uns gleich von seiner Kindheit und den Erlebnissen als Sohn eines Widerstandskämpfers.
Die Familie Hespers floh im Jahr 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung aus Mönchengladbach. Der Vater Theodor Hespers war in der Pfadfinderschaft Westmark aktiv gewesen, die der unter den Nationalsozialisten verfolgten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) nahestand. Er musste nach dem Verbot der KPD in die Niederlande fliehen. Kurz darauf folgte ihm seine Ehefrau Katharina Kelz mit dem gemeinsamen Sohn Dietrich Franz Hespers. Die Familienwohnung in der niederländischen Grenzstadt Melick wurde schnell zu einer wichtigen Anlaufstelle für deutsche Widerstandskämpfer_innen. Aufgrund der zunehmenden Intervention des NS-Regimes ASF-Freiwillige recherchierten Lebenswege deutscher Flüchtlinge in Belgien zur Zeit des Nationalsozialismus und trafen deren Nachkommen. Myriell Fußer Exil in Belgien 13 in den Niederlanden musste die Familie jedoch die Flucht auch innerhalb des Exillandes fortsetzen.
Wild und frei
Als wild und frei, zu Hause reformpädagogisch, auf der Straße proletarisch und unbeschwert beschreibt Dirk Hespers, wie er sich heute nennt, seine Kindheit in den Niederlanden: „All das gefiel mir außerordentlich gut.“ Die im Exilelternhaus einund ausgehenden jüdischen Freund_innen bringen Geschenke für das Kind des deutschen Widerständlers mit, die Kinder erziehen sich selber auf der Straße. Doch mit der Okkupation der Niederlanden ab dem 10. Mai 1940 muss die Kleinfamilie wieder fliehen. In der französischen Küstenstadt Dünkirchen bekommt der Vater Theodor Hespers das Rettungsangebot von einem englischen Hafenkommandanten. Er lehnt ab, da nur er, aber nicht seine Ehefrau und sein Sohn in Sicherheit gebracht hätten werden können. Die Familie lebte dann in Brüssel im Untergrund.
Seit 1935 war Theodor Hespers im nationalsozialistischen Deutschland zur Festnahme ausgeschrieben. Im Februar 1942 wurde er dann in Antwerpen von der Gestapo verhaftet und nach Berlin verschleppt. Es folgte ein Jahr Gefangenschaft in den Händen der Gestapo, in der Haft wurde Theodor Hespers grausam gefoltert. Im Juli 1943 wurde der damals 40-Jährige zum Tode verurteilt. Er wird am 9. September 1943 im Rahmen der Massenhinrichtungen von mehr als 200 Menschen in Berlin-Plötzensee ermordet.
Dietrich Franz Hespers überlebte mit seiner Mutter den Krieg. Zusammen kehrten sie 1948 nach Mönchengladbach zurück. „Alle Dinge, die mir widerfahren sind, waren in meinem Kopf als eine Geschichte – nicht als meine Geschichte – sondern als irgendeine Geschichte,“ sagt er nachdenklich. Doch nachdem er begann, seine Kinder- und Jugenderlebnisse in einem Buch aufzuschreiben und vor Schulklassen von seiner bewegten Jugendzeit und von seinem Vater zu sprechen, ist es seine Geschichte geworden. Dietrich Franz Hespers erzählte uns bewegend aus seinem Leben, sang Lieder der Wandervogel-Jugend und ließ die für uns so fernen Geschehnisse ganz lebendig erscheinen. So erhielt das Projekt eine viel persönlichere und greifbarere Dimension, als es durch alle Dokumente je möglich gewesen wäre.
Bewegende Reaktionen
Den Abschluss unserer Arbeit bildete ein Präsentationsabend, der im Juli 2011 in Brüssel stattfand. Wir stellten die erarbeiteten Biografien auf Tafeln vor. Begleitet wurde der Abend durch eine Lesung: Der Sohn von Ernst Goldschmidt las dessen Gedichte und Dirk Hespers las Ausschnitte aus seinen Memoiren „Rot Mof“ und sang Lieder aus dem NS-Widerstand. Anschließend gab es die Möglichkeit, mit den beiden Referenten zu sprechen. Die große Dankbarkeit, mit der die beiden Söhne auf unser Interesse und unsere Forschung zu ihren Vätern und die Abendveranstaltung am 11. Juli reagierten, war für uns überwältigend – und es fällt mir schwer, meine Gefühle dazu in Worte zu fassen. Für uns als ASF-Freiwilligengruppe in Belgien war der Abend eine würdige Abrundung und die Krönung unserer Projektarbeit.
Autorin: Myriell Fußer, Jahrgang 1991, arbeitete als ASF-Freiwillige bis September 2011 in Brüssel im Geschichtsforschungs- und Dokumentationszentrum für zeitgenössische Kriege und Gesellschaften CEGES-SOMA und koordinierte das Projekt „Exil in Belgien“.