»Asozial« – eine fortdauernde Verfolgung und Stigmatisierung

Menschen, die im Nationalsozialismus als sogenannte »Asoziale« Opfer der Verfolgung wurden, haben – wenn sie überlebten – oft bis ins hohe Alter unter der Zuschreibung gelitten. Jutta Weduwen sprach darüber mit Christa Schikorra, Leiterin der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.

Jutta Weduwen: Im Februar dieses Jahres hat der Bundestag beschlossen, Menschen, die im Nationalsozialismus als sogenannte Asoziale beziehungsweise Berufsverbrecher verfolgt wurden, als NS-Opfer anzuerkennen. Warum ist das so spät geschehen und welche Bedeutung hat diese Anerkennung dennoch?

Christa Schikorra: Dass sogenannte Asoziale als Opfergruppe des Nationalsozialismus jahrzehntelang nicht im Blick der Öffentlichkeit, aber auch der historischen Forschung sind und waren, hat sicherlich mit der fortdauernden Stigmatisierung zu tun. Ich bin aufgewachsen mit dem Wissen, dass in der Grundschule in meiner Klasse Kinder saßen, die aus der Efeustraße kamen. Damit war alles gesagt, da wohnten die »Asis«. Sie waren schmuddelig, hatten meistens ihre Hausaufgaben nicht gemacht, mit ihnen wollte keiner spielen. Das ist sicherlich eine Erfahrung, die so oder so ähnlich viele kennen.

Heute muss dieser Form der Ausgrenzung im Kanon der NS-Verbrechen entgegengehalten werden: Niemand war zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert. Dass der Deutsche Bundestag davon überzeugt werden konnte und die Anerkennung ausgesprochen hat, war selbstverständlich kein Selbstläufer, sondern verdankt sich der hartnäckigen Präsenz und jahrelangen Forderung einer Initiative, bestehend aus Familienangehörigen und Wissenschaftler*innen. Auch wenn viele Betroffene bereits verstorben sind, ist diese Anerkennung für die Familien, aber auch als Botschaft an die Gesellschaft, sehr wichtig.

Wer war von der Verfolgung betroffen?Was ist den Menschen passiert?

Über sogenannte Asoziale zu sprechen, heißt über soziale Außenseiter zu sprechen, auch unabhängig von der Gesellschaftsform. Letztlich geht es um das Selbstverständnis einer Mehrheitsgesellschaft, die Normen entwickelt, postuliert und durchsetzt – und ihre gesellschaftlichen Ränder, die sich außerhalb oder am Rand dieser Normen bewegen. Es geht um Zugehörigkeit, sprich: Inklusion einerseits und Ausschluss, sprich Exklusion, andererseits. Beide sind zwei Seiten einer Medaille. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wird dieses Prinzip der Inklusion und Exklusion als Auslese versus Ausmerze Staatspolitik. Gegossen in Gesetze, Verordnungen und Erlässe verschärften sich die Lebensbedingungen der als randständig Definierten. Das Ideal war die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft«, in der ausschließlich »Volksgenossen« einen Platz hatten. Dem gegenüber standen die Ausgrenzung und Verfolgung von politisch Andersdenkenden und an vorderster Stelle aus »rassischen« Gründen Verfolgten wie Juden und Jüdinnen, wie Sintezze*Sinti und Romnja*Roma. Die Definition, wer als »asozial« galt, war nicht sehr genau und wurde zu einem Sammelbegriff für als »artfremd« oder »gemeinschaftsfremd « Stigmatisierte.

Es hat Bettler, Landstreicher und Obdachlose getroffen, aber auch alleinerziehende Mütter, Frauen, die Kinder von verschiedenen Vätern hatten, oder Prostituierte. Gemeinsam war ihnen, dass sie in Armut lebten, vielfach keine feste Arbeit nachweisen konnten und bei dem Wohlfahrtsamt oder der Fürsorge bekannt waren. Eine entscheidende Rolle kam den Sozialbehörden zu. Sie waren wichtige Akteure in der Verfolgung sogenannter Asozialer vom Arbeitshaus, zur Anstalt, ins Konzentrationslager. Von Bedeutung war insbesondere die erbbiologisch grundierte psychiatrische Forschung, die in medizinischen Gutachten attestierte, dass Personen »minderwertig«, »liederlich« oder »unverbesserlich« seien.

Kannst Du eine typische Biografie von jemandem schildern, die oder der von den Nazis als »asozial« verfolgt wurde?

Als die 16-jährige Franziska auf Beschluss des Wiener Gaujugendamtes im Juli 1943 in eine Arbeitsanstalt für Mädchen und Frauen eingewiesen wird, hat sie bereits über ein Jahr lang verschiedene Erziehungsheime und psychiatrische Kliniken »kennengelernt«. Ein Gutachter bescheinigt ihr »sittliche Verwahrlosung und Arbeitsscheu bei einem körperlich gut entwickelten, geistig primitiven triebhaften Jugendlichen«. Während ihres Aufenthaltes in der Arbeitsanstalt wird ein Schulheft bei Franziska entdeckt, mit sogenannten Schlurfliedern. Ihrer Aussage nach hat sie sich im 2. Bezirk regelmäßig in einem Café mit anderen »Schlurfleuten« getroffen, dort hätten sie nach Jazzmusik getanzt. Sie habe dazu einen kurzen Faltenrock und ein überlanges, amerikanisches Sakko getragen. Ähnlich wie im Hamburg der Swing-Jugend wird den Wiener Jugendlichen ihre Vorliebe für angloamerikanische Musik zum Verhängnis. Diese Form der Jugendkultur steht im krassen Gegensatz zu den militärisch durchorganisierten Jugendorganisationen der Nationalsozialisten. Franziska wird in den Akten der Arbeitsanstalt als Aufwieglerin und Anführerin beschrieben, die die Einrichtung mit »jenem zersetzenden Schlurfgeist durchseuche, der ihr schon zur zweiten Natur geworden ist.« Franziska wird im August 1944 strafverschärfend in das Mädchen Konzentrationslager Uckermark transportiert. Ihr weiterer Weg ist unbekannt. Wichtig erscheint mir, darauf hinzuweisen, wer alles beteiligt war an der Verfolgung sogenannter Asozialer. Neben den Sozialbehörden, den Arbeitsämtern und der Kriminalpolizei waren es vor allem auch Mediziner*innen, die in ihren »ärztlichen Gutachten« nicht nur ihre Befunde darlegten, sondern auch weiterführende Maßnahmen empfahlen, bis hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager.

Gab es genderspezifische Unterschiede bei der Verfolgung?

Da ich mich schwerpunktmäßig mit der Geschichte verschiedener Konzentrationslager befasse, fiel mir auf, dass die Gruppe der als »asozial« Inhaftierten in Ravensbrück als Frauen-Konzentrationslager wesentlich größer war in der Gesamtzahl der Häftlinge als in einem Männer-Konzentrationslager wie Flossenbürg. Dabei waren die unmittelbaren Vorkriegsjahre der Zeitraum, den ich betrachtete. Daraus ergab sich die Frage: Was wird bei Frauen, was bei Männern als »asozial« gesehen? Setzt sich das Bild der/des »Asozialen« genderspezifisch zusammen? In den überlieferten Akten der Fürsorgeeinrichtungen, Gesundheitsämter, der Polizei oder der Krankenanstalten ist auffällig, dass die Sicht auf ihre Klientel deutlich von Geschlechterbildern geprägt ist. Bei den Frauen wird wiederholt das »unsittliche Verhalten« beziehungsweise die »verwahrloste Person« betont. Bei den Männern finden sich eher Kennzeichnungen als »Drückeberger« und »Arbeitsscheuer«. Während Männer in erster Linie durch Landstreicherei und Eigentumsdelikte auffielen, ohne dass ihre Sexualität dafür als Begründung galt, wurde Verwahrlosung von Frauen in der Regel mit ihrem sexuellen Verhalten begründet. Meine Beobachtung ist, dass Vergehen von Frauen als Abweichung von den sozialen Normen wahrgenommen und durchweg sexualisiert wurden, Vergehen von Männern hingegen innerhalb des kriminalistischen Kanons als Straftat beschrieben wurden.

Diese Sicht wirkt sich letztlich darauf aus, mit welcher Begründung die Kriminalpolizei Menschen in die Konzentrationslager eingewiesen hat. Wenn es nicht um ein Delikt, also eine Straftat ging, sondern um eine der Person zugeschriebene Charaktereigenschaft im Sinne einer Abweichung, bietet es einen Erklärungsansatz, warum quantitativ mehr Frauen mit dem Haftgrund »asozial« in ein KZ eingeliefert wurden als Männer.

Wie ist es den Menschen nach 1945 ergangen? Gab es Kontinuitäten der Verfolgung und Stigmatisierung?

Stigmatisierung und Ausgrenzung bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung blieben auch nach Kriegsende in Form von Bedrohung und Einschränkungen für diese NS-Verfolgten bestehen. Vielfach waren die Betroffenen bei ihren Bemühungen um Rehabilitierung mit Gutachter*innen, Ärzt*innen, Richter*innen und Sozial - arbeiter*innen konfrontiert, die aktiv an Ausgrenzungen und Verurteilungen während der NS-Zeit mitgewirkt hatten. Landläufig herrschte die Meinung vor, dass die Inhaftierung sogenannte Asozialer kein NS-Unrecht, sondern selbstverschuldet sei; nach dem Motto: Hättest Du Dich besser benommen, wärst Du nicht ins KZ gekommen! Die fehlende gesellschaftliche Anerkennung der NS-Verfolgung als Unrecht sowie die extrem negativ geprägten Erfahrungen mit Zwangsinstitutionen und dem darin erlebten Unrecht, ließen die mit dem Stigma der Asozialität Belasteten allein zurück. So war eine Betroffene, als sie im Jahr 1951 anlässlich ihrer Heirat ein Verfahren zur Rücknahme ihrer Entmündigung einleiten wollte, mit der gleichen Beamtin konfrontiert, die 1936 ihre Entmündigung veranlasst hatte. 

Den meisten der von mir (Mitte der 1990er Jahre) interviewten Frauen gelang es in der Mehrheitsgesellschaft individuell, wieder Fuß zu fassen, jedoch unter erheblichen Anpassungsleistungen. Damit ihnen das gelingen konnte, mussten sie das Stigma ihrer Verfolgung als »Asoziale« im NS-Staat verdrängen. Dies ist einer der Gründe, warum viele Überlebende erst im Alter versuchten, ihre Ansprüche nach Anerkennung und Entschädigung anzumelden. Außerdem war die Zuschreibung »asozial« nicht selbst gewählt, es gab keinen positiven Bezug, keine Gruppenidentität, keine gesellschaftliche Lobby – »asozial« wurde weiterhin als Stigma erlebt.

Ich habe Dich im letzten Jahr bei einer Podiumsdiskussion zum Thema erlebt und war beeindruckt, wie Du den Menschen, die als »Asoziale« verfolgt wurden, Aufmerksamkeit, Erinnerung und Anerkennung gibst. Was hat Dich bewegt, dich besonders mit der Verfolgung von sogenannten Asozialen im NS zu beschäftigen?

Ich besuchte mit einer internationalen Frauengruppe aus West-Berlin kommend 1986 das erste Mal das ehemalige FrauenKonzentrationslager Ravensbrück. Dort fragten wir uns, ob lesbische Frauen eigentlich im KZ inhaftiert waren. Das war der Ausgangspunkt meiner damaligen Forschungen zu den sogenannten asozialen Häftlingen im Frauen-KZ Ravensbrück, die mich dann auf einen ganz anderen Weg geführt haben. Am Anfang meiner Recherchen stand die Suche – nach Frauen, die als »Asoziale« nach Ravensbrück deportiert wurden und überlebt hatten und die ich befragen konnte. Die intensivste Erfahrung bei diesen Gesprächen war für mich, wie stark eingeschlossen das Thema auch in ihrem ganz persönlichen Leben geblieben war. Manche hatte Jahrzehnte lang nicht über ihre Verfolgungserfahrung gesprochen. Die Stigmatisierung und das Tabu wirkten spürbar bis in die Gegenwart.

Was können wir tun, damit wir den Menschen gerecht werden, deren Geschichten so wenig bekannt sind?

Eine sehr gute Frage, die sich jede*r selbst stellen und durch sein Tun beantworten sollte. Heute deutlich und entschieden gegen Ausgrenzung und für Gerechtigkeit einzustehen wäre meine klare Botschaft.

Dr. Christa Schikorra studierte in Dortmund und Berlin Erziehungswissenschaften, Soziologie und Politikwissenschaft, promovierte in Geschichtswissenschaft. Sie ist seit 2010 Leiterin der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Ehemals Mitglied des Vorstands, jetzt Mitglied des Kuratoriums von ASF.

Jutta Weduwen studierte in Hamburg, Jerusalem und Berlin Soziologie. Sie kam 2001 als Referentin zu ASF und ist seit 2012 Geschäftsführerin. Sie ist unter anderem Mitglied im Sprecher*- innenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche + Rechtsextremismus sowie im Netzwerk Rechtsextremismusprävention. 

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