Mit ihrem YouTube-Kanal »Anders Amen« lotet das Pastorinnenpaar Stefanie und Ellen Radtke die Grenzen der evangelischen Kirche aus und setzt sich für ihre Vision einer Kirche ein, in der auch queere Menschen einen Platz haben. Ute Brenner hat sie nach ihren Zielen gefragt.
Ute Brenner: Mitte Januar haben Sie Ihren eigenen YouTube-Kanal gestartet. »Anders Amen« heißt das Format, in dem Sie über Gott und die Welt reden, aber auch ganz Privates erzählen – wiekam es zu der Idee?
Ellen Radtke: Wir haben uns schon seit Längerem über verschiedene konservative Social-Media-Kanäle zum Thema Kirche aufgeregt. Da geht es um Enthaltsamkeit, darum, jungfräulich in die Ehe zu gehen, oder um Höllenstrafen. Was da gezeigt wird, ist oft sehr restriktiv. Die konkrete Idee entstand, als wir auf einem Empfang Mitarbeiter*innen des Evangelischen Kirchenfunks kennengelernt haben. Es wurde Apfelwein getrunken und wir haben miteinander herumgesponnen. Wir hatten die Idee einer Daily Soap, die sollte »crazy holy life« heißen. Am nächsten Tag, als wir alle wieder nüchtern waren, kam von den Kirchenfunkleuten eine E-Mail, sie würden tatsächlich gern etwas mit uns machen. Und dann haben wir losgelegt.
Wen wollen Sie mit den Videos erreichen?
Stefanie Radtke: Wir hatten zunächst queere Menschen Anfang der Zwanziger im Blick, die kaum noch ein Vaterunser aufsagen können. Für uns ist es wichtig, diese Zielgruppe im Hinterkopf zu haben, weil mittlerweile von außen viele Ansprüche und Ideen an uns herangetragen werden, die oft nicht dazu passen. Inzwischen haben wir gemerkt, dass wir aber auch andere Menschen mit unseren Themen ansprechen.
Verstehen Sie sich als Botschafterinnen für eine queere Kirche?
Ellen Radtke: Wir stehen für die Kirche, in der jeder Platz hat und die eine Kirche ist, die uns auch selbst begeistert. Die vielen klassischen Gemeindeformen und das typische Gemeindeleben passen für uns beide nicht so gut, weil wir als lesbisches Paar darin nicht vorkommen. Noch haben wir keine Kinder – erst in drei Monaten ist es soweit – das heißt, wir waren bisher auch nicht als Eltern angesprochen. In den üblichen Sonntagsgottesdiensten habe ich für mich keinen Ort gefunden. Aber im Gemeindepfarramt leben wir trotzdem unsere Vision einer Kirche, die auch mal laut ist, die offen ist, in der auch Partys gefeiert werden, die Freude am Leben hat. Genau für diese Vision stehen wir auch bei YouTube ein: für eine Kirche, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die nicht Traditionen über Kommunikation stellt.
Die Medien überschlagen sich mit Lob und Berichterstattung, genauso wie viele User*innen, die Sie als die »coolsten Pastorinnen Deutschlands« feiern: Haben Sie damit gerechnet, dass es so einen großen Hype um Ihre Videos geben wird?
Ellen Radtke: Ich weiß nicht, ob wir das gemacht hätten, wenn wir gewusst hätten, was auf uns zukommt. Wir sind Kirche und die Medien hypen Kirche normalerweise nicht so. Unser Ziel war es, in den ersten sechs Monaten 1.000 Follower zusammenzubringen. Dann hatten wir nach der ersten Woche schon die tausend voll. Wir haben zwischendurch nachgedacht, ob wir das Projekt abbrechen sollen, weil es zu groß wird und wir das zeitlich nicht mehr schaffen, denn wir machen das ehrenamtlich neben unseren Vollzeitjobs.
Stefanie Radtke: Wir dachten auch, nach zwei Wochen ist es mit dem Interesse vorbei. Aber es hörte und hört nicht auf. Das hätten wir niemals gedacht, wir sind doch »nur« Dorfpastorinnen aus Eime.
Sie haben mit ihrem YouTube-Auftritt offenbar den Nerv bei vielen User*innen getroffen.
Ellen Radtke: Wir haben eine Lücke gefüllt. Ganz offen und schamlos für Kirche einzutreten, das hat bisher vielleicht gefehlt. Und wir können offenbar so reden, dass die Menschen uns verstehen Wir verfallen nicht in diesen »Theologensprech«, den wir an der Uni gelernt haben und uns im Vikariat wieder hart abtrainiert haben.
Es gibt aber auch kritische Stimmen und Hasskommentare auf YouTube – wie gehen Sie damit um?
Stefanie Radtke: Wir wollen deutlich machen, dass es auch homophobe und radikale Christen gibt. Das leistet »Anders Amen«, indem es diese Stimmen sichtbar macht und sagt: Nein, liebe Kirche, nur weil wir lesbische Pastorinnen sind und die Kirche uns bezahlt, ist nicht alles gut. Darum legen feindliche und beleidigende Kommentare auf YouTube eigentlich nur das offen, was wir immer erleben.
Ellen Radtke: Viele Leute sind echt unkreativ. Die kopieren immer die drei gleichen Bibelstellen, die belegen sollen, dass die Bibel vermeintlich nur Heterosexualität vorgibt, und schreiben das dann in ihre Kommentare. Wir lachen mittlerweile darüber. Aber nachdem wir die Schwangerschaft bekanntgegeben hatten, wurde es krass. Leute haben geschrieben, sie wünschten, dass es eine Missgeburt wird. Damit wir wissen, wie lästerlich unser Leben ist. Das war heftig für mich. Da dachte ich: Es geht hier um ein ungeborenes Leben und ihr nennt euch Christen. Es gab Momente, in denen ich das kaum mehr ertragen habe.
Sie leben seit 2017 in dem niedersächsischen Dorf Eime – wie reagieren die Einwohner*innen auf Ihren YouTube-Kanal?
Stefanie Radtke: Am Anfang haben wir das der Gemeinde gar nicht gesagt, weil wir dachten, wir starten einen Social-Media-Kanal und das interessiert niemanden. Aber als das dann durch alle Medien ging, hat das natürlich jeder mitbekommen. Mittlerweile haben sich die Leute daran gewöhnt und die unterschiedlichen Generationen setzen sich mittwochs abends zusammen, um das neue Video anzuschauen. Viele sind auch stolz, weil Eime so bekannt geworden ist.
Ellen Radtke: Es gibt natürlich auch Stimmen, die sagen, als Pastorin sollte man nicht mit so privaten Dingen an die Öffentlichkeit gehen. Das sind die Leute, die sich auch beschweren, wenn wir beim Dorffest mitfeiern, bis das Licht angeht, oder wenn wir mit den Jugendlichen mal Döner essen, statt nur in der Bibel zu lesen.
Sie haben auf YouTube Ihren Kinderwunsch thematisiert – wie waren die Reaktionen darauf?
Ellen Radtke: Als wir über die Samenspende gesprochen haben, hatten wir schon Sorgen, was gesagt wird, aber die meisten fanden das gar nicht so schlimm.
Stefanie Radtke: Das Gute ist, dass jedes Thema irgendwer gut findet. Dann mokiert sich jemand und ein anderer sagt, genau das fand ich interessant. Wir haben mit der Samenspende auch neue Leute angesprochen, nämlich Heterosexuelle, die keine Kinder bekommen können, die nie über Samenspende oder künstliche Befruchtung reden und auch niemanden haben, mit dem sie darüber sprechen können. Sie geben sehr viel aus Ihrem privaten Leben preis, warum machen Sie das?
Stefanie Radtke: Das sehe ich anders, denn wir zeigen nicht unser Schlafzimmer. Wir beantworten im Grunde nur Fragen, die uns sowieso gestellt werden. Ich möchte nicht, dass diese Fragen später unserem Kind gestellt werden. Alle wissen jetzt, dass Ellen nicht mit einem Mann geschlafen hat, sondern dass wir eine Samenspende aus Dänemark bekommen haben. Fertig!
Ellen Radtke: Sobald man anders ist, verlieren viele Menschen Hemmungen. Ich vergleiche das immer mit Schwarzen Menschen, die mir erzählen, dass sie ständig gefragt werden, ob man in ihre Haare greifen darf und das wird dann auch einfach getan, ohne die Antwort abzuwarten. Diese Übergriffigkeit gegenüber Menschen, die man als anders wahrnimmt, ist unglaublich krass. Das erleben Regenbogenfamilien, die hemmungslos gefragt werden, wie sie zu dem Kind gekommen sind. Wenn wir also über solche Dinge in der Öffentlichkeit sprechen, ist der Grund auch Selbstschutz. Schön wäre es natürlich, wenn wir in einer Welt leben würden, in der wir normal wären und diese Offensivität nicht bräuchten. Aber da sind wir noch lange nicht, gerade sind wir eher an einem Punkt, an dem es Rückschritte gibt.
Wie queer soll Kirche sein? Was wünschen Sie sich von Ihrer Kirche?
Ellen Radtke: Wenn bei uns Gottesdienst gefeiert wird, dann sitzen da die Geschiedenen, die Patchworkfamilien, die Alleinstehenden, die Witwen, die Eltern ohne Kinder, die aber ihre Eltern pflegen, kinderlose Singles. Die Kirche soll so kommunizieren, dass sich alle angesprochen fühlen, und die jeweilige Entscheidung für die eigene Lebensform nicht als defizitär wahrgenommen wird. Ich wünsche mir Sensibilität und das Verständnis dafür, dass eine Familie nicht automatisch Mama, Papa, Kind ist, sondern auch Mama, Mama, Kind sein kann – oder etwas ganz anderes.
Wo bietet Kirche noch das Dach, so coole Sachen umzusetzen wie den YouTube-Kanal »Anders Amen«, also welche Netzwerke oder Bündnisse gibt es zum Beispiel?
Stefanie Radtke: Für die Kommunikation auf Social Media gibt es »yeet«, ein Netzwerk ganz unterschiedlicher evangelischer Stimmen, das gerade noch wächst und auf Insta und YouTube sichtbar ist. Auf Twitter finden sich viele Diskussionen und Ideen unter #digitalekirche. Aber ansonsten gilt, was evangelisch immer gilt: Einfach machen!
Ellen und Stefanie Radtke leben gemeinsam in dem niedersächsischen Dorf Eime. Beide sind Pastorinnen. Stefanie Radtke betreut seit 2017 die Gemeinde. Ellen Radtke kümmert sich für die Evangelische Landeskirche in Niedersachsen um das Thema Digitalisierung. Im Oktober erwarten die beiden ihr erstes Kind.
Ute Brenner, Historikerin und Redakteurin, ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.