Am 28. Juni 1969 stürmte die Polizei das Stonewall Inn in New York. Die hauptsächlich queeren Gäste der Bar hatten genug: Queere Menschen aller Geschlechter, darunter viele trans Personen und People of Color, wehrten sich gegen Schikane. Jahrzehnte aufgestauter Wut entluden sich in dem tagelangen Aufstand rund um die New Yorker Christopher Street und setzten von dort aus einen Impuls zur queeren Emanzipation auf der ganzen Welt. Bis heute erinnern jährliche Christopher-Street-Paraden im »Pride Month« Juni auch an dieses Ereignis.
Die Geschichte der queeren Bewegung in (West-)Deutschland lässt sich ebenfalls nicht ohne den Bezug zu Stonewall erzählen. Homosexuelle hatten sich zwar schon vor den Aufständen organisiert – in sogenannten »Homophilen-Gruppen«, welche die Anerkennung für einen bestimmten homosexuellen Lebensstil in der Mehrheitsgesellschaft erreichen wollten. Das Engagement nach Stonewall wurde aber radikaler – zur reinen Suche nach Anerkennung gesellte sich nun auch ein Gefühl von Stolz.
Im September des Stonewall-Jahres trat die Liberalisierung des Paragrafen 175 über »Unzucht zwischen Männern « in der BRD in Kraft: Praktizierte gleichgeschlechtliche Sexualität unter erwachsenen Männern war fortan nicht mehr strafbar. Dadurch begann langsam ein öffentliches schwules Leben. Der international bekannte Filmregisseur Rosa von Praunheim veröffentlichte 1971 mit »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« einen Film, der heute als Initialzündung der Schwulenbewegung angesehen wird, als »deutscher Stonewall-Moment«. Politische homosexuelle Gruppen schossen aus dem Boden und am 29. April 1972 wurde in Münster die erste Schwulendemo in der Bundesrepublik durchgeführt.
Ziel der lesbischen Frauen, die in der Folge begannen, sich bundesweit in Lesbengruppen zusammenzuschließen, war, aus der Isolierung und Tabuisierung lesbischen Lebens herauszukommen und dies möglichst allen Lesben zu ermöglichen. Neben gemeinsamen Kämpfen mit der Schwulenbewegung wurde aber der feministische Charakter der Bewegung deutlich – der auch zu eigenen Wegen und Distanz zur Schwulenbewegung führte.
Über die nächsten Jahrzehnte kam es zu weiteren Differenzierungen innerhalb der queeren Bewegungen. Dass überhaupt der Begriff »queer« neben dem Akronym LGBTQIA* als möglicher Oberbegriff in den 1990er Jahren Einzug in die deutsche Sprache hielt, zeigt symptomatisch eine wichtige Entwicklung der queeren Bewegung: die Erkenntnis einer Gemeinsamkeit darin, abseits der heteronormativen Gendernorm zu liegen. Und so wurde die Bewegung inklusiver für bi- oder pansexuelle, asexuelle, intersexuelle Menschen und binäre wie nicht-binäre trans Personen.
In den letzten Jahren konnte die queere Bewegung immer wieder Zwischenerfolge wie die endgültige Abschaffung des sogenannten Schwulenparagrafen (1994), die Einführung einer »Ehe für alle« (2017) und die Möglichkeit des Eintragens anderer Geschlechtsidentitäten als männlich und weiblich in offiziellen Dokumenten (2018) verzeichnen. Und dennoch: Die Kämpfe bleiben aktuell. So ist erst vor wenigen Wochen ein Vorschlag zur Ablösung des Transsexuellengesetzes durch ein »Selbstbestimmungsgesetz« vorgelegt worden, welcher den umstrittenen rechtlichen Umgang mit transgeschlechtlichen Identitäten von Grund auf neu regeln würde.
Die Frauenbewegung
Die queere und insbesondere die Lesbenbewegung überschneiden sich auch mit der Frauenbewegung. Sozial- und geschichtswissenschaftlich geschieht die übliche Ordnung der feministischen Frauenbewegung über drei sogenannte Wellen. Die erste Welle ging vor etwa 100 Jahren zu Ende – mit der Anerkennung, dass Frauen auch Menschen sind: Wahlrecht, die Erlaubnis, den Führerschein zu machen, und andere fundamentale Grundrechte für Frauen waren die Folge. In der zweiten Welle ging es dann vor allem um die Gleichstellung vor dem Gesetz. Ihren Höhepunkt hatte diese sogenannte zweite Frauenbewegung im Westen in der Hippie-Bewegung während der 1960er und 1970er Jahre, in die auch die ersten gemeinsamen Kämpfe mit der Lesbenbewegung fielen. Frauen sollten arbeiten und studieren dürfen, und das selbstbestimmt. Außerdem wurde häusliche Gewalt illegal. Auch im Kampf gegen den Paragrafen 218, welcher Abtreibung unter Strafe stellte, schlossen sich die verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung zusammen (und tut es bis heute).
Mit etwas Abstand wurde sichtbar, dass die ersten beiden Wellen zwar eine Verbesserung darstellten, aber eigentlich nur für Frauen der Mittelschicht, und außerdem nur nach den Normen weißer (meist alter) heterosexueller cis Männer – sprich: innerhalb der Regeln des Patriarchats. Entsprechend befinden wir uns in einer dritten Welle, in der es perspektivisch zwar immer noch und vielleicht stärker als je zuvor darum geht, das Patriarchat abzuschaffen, aber auch darum, zu verstehen, dass verschiedene Diskriminierungsformen miteinander einhergehen: Intersektionalität und die Erkenntnis, dass es Privilegien gibt, sind hier die Stichworte.
Eine Geschichte einer Bewegung
Dieser Artikel war ein Experiment, das eigentlich nur scheitern kann. Denn mit jedem analytischen Versuch, die verschiedenen politischen Agenden und Strömungen zu einer Emanzipationsbewegung zu vereinen, ignorieren wir wichtige Differenzlinien und schmerzhafte Verletzungen: Trans Frauen werden teilweise bis heute von selbst ernannten Feministinnen aus Frauenräumen ausgeschlossen – und in schwulen Räumen wird häufig verschwiegen, dass mit Marsha P. Johnson eine Schwarze Dragqueen zu den ersten Stonewall-Demonstrant*innen gehörte. Bisexuelle Menschen müssen erleben, innerhalb der queeren Community als »nicht queer genug« angesehen zu werden. Schwarze lesbische Frauen erleben sowohl in der Frauen- als auch in der queeren Bewegung immer wieder, dass die Mehrfachdiskriminierung, die sie erfahren, nicht anerkannt wird.
Die Geschichte von organisiertem queerem und feministischem Widerstand in Deutschland ist eine Geschichte der vielen Geschichten. DIE queere Bewegung gibt es nicht, genauso wenig wie es DEN Feminismus gibt. Auch das ist eine Erkenntnis, die die Arbeit vieler Aktivist*innen besonders in den letzten Jahren hervorgebracht hat, in denen sich die Themen und Kämpfe innerhalb der queeren und der feministischen Bewegungen diversifiziert haben. Aus diesem Grund beende ich meinen Artikel mit ein paar Lesetipps, in denen die verschiedenen Facetten der Bewegungen, die ich in den letzten Absätzen nur anreißen konnte, vertiefend ausgearbeitet wurden.
Rebecca Görmann hat 2006/07 einen ASF-Dienst in Israel gemacht und arbeitet heute bei ConAct, dem bundesweiten Koordinierungszentrum für deutsch-israelischen Jugendaustausch. Außerdem podcastet sie aus einer intersektionalen, queerfeministischen Perspektive zu Filmen und Serien (kultpess.de), Fußball (fruef.de) und Gesellschaft (reichlich-randale.de) und engagiert sich für die Sichtbarkeit von Frauen, nicht-binären Personen und BIPoC in der deutschsprachigen Podcastszene.