»Ich habe gelebt, aber nie so richtig.«

»Die Tatsache allein, dass man trans ist, ist kein schweres Schicksal. Ein schweres Schicksal ist die Sache, wie die Gesellschaft damit umgeht.« Das sagt Linus Giese, der sich mit 31 Jahren geoutet hat. Seit einigen Jahren erzählt und schreibt er auf unterschiedlichen Plattformen offen darüber. Ute Brenner hat mit ihm gesprochen.

Foto: Rowohlt Verlag

Brenner: In Ihrem Buch »Ich bin Linus«, das im August erschienen ist, beschreiben Sie den Moment Ihres Outings als trans Mann in einem Kaffeeladen – können Sie mir erzählen, was da passiert ist?

Linus Giese: Das war im Oktober 2017. Ich bin in den Starbucks am Frankfurter Hauptbahnhof gegangen und habe auf die Frage, welcher Name auf den Becher geschrieben werden soll, zum ersten Mal Linus gesagt. Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal den Namen laut ausgesprochen habe, den ich mir im Hinterkopf immer für mich gewünscht hatte. Danach habe ich ein Foto von dem Becher gemacht, auf Facebook hochgeladen und meinen Freunden und Freundinnen gesagt: Das ist der Name, der in Zukunft meiner sein wird.

Wie hat Ihr Umfeld auf Ihr Outing reagiert?

Nachdem ich den Post abgeschickt hatte, habe ich den Rechner heruntergefahren und gar nicht in die Kommentare geguckt, weil ich so angespannt und aufgeregt war, wie die Menschen reagieren würden. Die ersten Reaktionen darauf waren dann sehr verständnisvoll, sehr wohlwollend. Manche sagten, sie hätten sich das schon gedacht oder es geahnt.

Wann wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass das Ihnen zugewiesene Geschlecht als Frau nicht das ist, das zu Ihnen passt?

Der Gedanke, dass ich mich anders fühle oder dass irgendetwas nicht stimmt und sich nicht richtig anfühlt, war schon sehr früh da, als ich etwa sechs Jahre alt war. Im Laufe der Pubertät ist es immer schlimmer geworden, aber ich wusste nicht genau, was los ist. Ich kannte den Begriff »trans« gar nicht und konnte nicht formulieren, dass ich ein trans Junge bin. Mir fehlte komplett das Vokabular. Es gab auch niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Ich war ein zurückgezogener und schüchterner Mensch. Mit 16 Jahren habe ich im Internet das Tagebuch eines trans Mannes gelesen. Er hatte vor seinem Coming Out schon angefangen zu schreiben und erzählte, welchen Weg er geht. Da habe ich zum ersten Mal gedacht, oh, das klingt interessant. Aber dann hat es trotzdem noch gedauert, bis ich 31 Jahre alt war und mich geoutet habe.

Es klingt so, als ob Sie in diesen Jahren sehr einsam waren?

Ich habe das damals nicht so bewusst erlebt, aber wenn ich jetzt zurückschaue, kommt mir das auch sehr traurig, sehr einsam vor. Wenn ich mir Fotos von damals ansehe, frage ich mich, warum das niemand sehen konnte, dass etwas nicht in Ordnung war.

Sie schreiben in Ihrem Buch: »Ich transitioniere und das Schöne daran ist, dass das kein gerader, vorgegebener Weg sein muss.« Können Sie mir beschreiben, wie Ihr Weg bis heute aussah?

Wenn in den Medien über das Thema »trans« berichtet wird, entsteht schnell der Eindruck, ich würde quasi in einen Kleiderschrank steigen, mich »umoperieren« lassen und dann als Mann wieder herauskommen. Aber so ist es nicht. Ich habe mich im Oktober 2017 geoutet, seit Februar 2018 nehme ich Testosteron. Dadurch hat sich vieles bei mir verändert, was mich sehr viel glücklicher gemacht hat – sei es meine Stimme oder der Haarwuchs, meine Schultern sind breiter geworden. Ich fühle mich wohler in meinem Körper, aber ich hatte noch keine Operation. Das ist etwas, was ich anstrebe, aber ich lasse mir Zeit damit. Ich habe in den vergangenen drei Jahren erst einmal entdeckt, was mir Spaß macht und gefällt. Sei es, dass ich ausprobiert habe, welche Frisur zu mir passt und mir zum ersten Mal in meinem Leben die Haare gefärbt habe. Dass ich meinen Spaß daran entdeckt habe, Kleidung zu kaufen – etwas, was ich früher ganz furchtbar fand. Früher wäre ich nie auf die Idee gekommen, ein Selfie von mir zu machen. Ich hatte keinen Spaß daran, mich mit mir und meinem Körper zu beschäftigen. Ich habe gelebt, aber nie so richtig. Das hat sich jetzt geändert.

Sie beschreiben Ihren Weg als eine Geschichte der Verdrängung und Unterdrückung – trotzdem wollen Sie nicht, dass er als ein langer, schmerzhafter Weg verstanden wird. Was meinen Sie damit?

Dass es bei mir so lange gedauert hat, bis ich mich geoutet habe, ist für mich persönlich schmerzhaft. Aber ich finde es schade, wenn der Schwerpunkt darauf gelegt wird, dass das ein Leidensweg oder ein Schicksalsweg sei oder dass Menschen, die sich als trans outen, ein schweres Schicksal haben. Die Tatsache allein, dass man trans ist, ist kein schweres Schicksal. Ein schweres Schicksal ist die Sache, wie die Gesellschaft damit umgeht. Das ist es, was es einem schwermacht, was einen leiden lässt.

Sie sind seit mehreren Jahren mit Ihrem Leben in der Öffentlichkeit, bei Twitter, Sie bloggen, Sie schreiben für den Tagesspiegel – wie reagieren Leser*innen und User*innen?

Ich merke, dass es viel Interesse und Neugier gibt. Es ist für mich immer wieder ein Abwägen, wo ich meine Grenzen setze. Wie viel bin ich bereit zu zeigen und zu geben? Ich bekomme Nachrichten von Menschen, die glauben, dass sie trans sind oder von Eltern, deren Kinder mit ihrem Geschlecht hadern, und ich sage immer, ich bin kein Therapeut. Ich bin selbst in Therapie. Ich erzähle gern von meinem Lebensweg, aber ich kann Menschen nicht betreuen oder beraten. Ich freue mich, dass ich Menschen durch meine Art zu schreiben erreichen und etwas anstoßen kann.

Sie werden auf Twitter regelmäßig bedroht und beschimpft, seit Sie sich geoutet haben. Sie werden mit dem Tod bedroht oder Ihnen wird damit gedroht, Sie zu vergewaltigen: Wie gehen Sie mit dem Hass um, der Ihnen entgegenschlägt?

Das ist nicht immer einfach, das geht mir sehr nahe. Das war für mich ein komplett neuer Umgangston, den ich plötzlich erlebt habe. Ich habe mir Hilfe bei einer Therapeutin geholt, die auf das Thema Hass im Netz spezialisiert ist. Das hat mir unglaublich geholfen, das von mir zu abstrahieren, dass diese Menschen mich nicht persönlich hassen, sondern dass ich ein Symbol oder eine Projektionsfläche bin für etwas, was Menschen Angst macht oder sie aufregt.

Und bei den Drohungen im Internet ist es nicht geblieben: Sie wurden auch schon in dem Buchladen, in dem Sie arbeiten, von Menschen aufgesucht und beschimpft und auch Ihr Zuhause war nicht mehr sicher. Warum tun Sie sich das an?

Anfang des Jahres habe ich sehr mit meiner Situation gehadert und darüber nachgedacht, mich zurückzuziehen und auch das Buch nicht zu schreiben. Ich habe dann für mich beschlossen, ich lasse mich nicht aus meiner Wohnung vertreiben oder mir Angst einjagen. Mir ist es wichtig, weiter meine öffentliche Arbeit zu machen und das lasse ich mir nicht nehmen. Dafür habe ich mich entschieden, aber ich hinterfrage das auch immer wieder. Es kann sein, dass ich mich doch irgendwann entscheide, eine neue Wohnung zu suchen oder mich aus den sozialen Netzwerken zurückzuziehen.

Was bekommen Sie an Positivem zurück? Was ermutigt Sie, wenn Sie sich in den sozialen Netzwerken zeigen?

Ich freue mich, wenn ich Rückmeldungen von Leuten bekomme, die sagen, sie haben etwas an ihrer Sprache verändert, oder dass ich durch meine Perspektive etwas bei ihnen bewirkt habe. Ich glaube, dass viele bei mir mitlesen und denken, das ist interessant, aber sie äußern sich nicht, im Gegensatz zu denen, die wütend werden und Hasskommentare schreiben. Solange ich das Gefühl habe, dass es noch Menschen gibt, die etwas daraus mitnehmen, mache ich das noch, aber gehe vielleicht irgendwann in den Twitter-Ruhestand. Ich könnte mir auch vorstellen, in Schulen zu gehen oder an anderen Orten aufzuklären.

Sie beschreiben in Ihrem Buch das Gefühl der Dysphorie, das vor allem bei nichtbinären und trans Menschen vorkommt – können Sie mir erklären, was das ist?

Bei mir kommt das zum Beispiel dadurch, dass ich mich unwohl fühle mit bestimmten Körperteilen wie mit meinen Brüsten. Weil Brüste in der Gesellschaft etwas weiblich Konnotiertes sind und ich denke, wenn ich unterwegs bin, achten alle auf meine Brüste. Das Gefühl der Dysphorie beschränkt sich aber nicht nur auf Körperteile, sondern entsteht auch in sozialen Situationen im Alltag. Wenn ich etwa beim Bäcker bezahle und die Kassiererin sagt, »bitte schön, die Dame«. Das löst das Gefühl aus, nicht richtig erkannt zu werden, nicht richtig gelesen zu werden.

Was wünschen Sie sich von den Menschen, wie sie mit dem Thema Geschlechteridentitäten umgehen?

Wir sollten schon im Kindergarten anfangen, bestimmte Themenbereiche anders aufzuklären. Und ich würde mir wünschen, dass in der Gesellschaft weniger binär gedacht wird. Wir sind alle in diesen Vorstellungen verfangen, wie ein Mann und wie eine Frau auszusehen haben. Viele sind mit den Gedanken überfordert, wenn Dinge davon abweichen, dass nicht jeder Mann einen Penis haben muss und nicht jede Frau eine Vulva hat. Eine Vulva ist nichts typisch Weibliches und ein Penis nichts typisch Männliches. Wenn sich für so ein Denken eine breitere Akzeptanz in der Gesellschaft finden würde, würde ich mich darüber freuen. Ich wünsche mir, dass wir unsere Vorstellungswelten und unsere Perspektiven erweitern und Menschen so akzeptieren können, wie sie sind.

Die Gesellschaft ist binär geprägt: Es gibt zum Beispiel Herren- und Damenabteilungen bei Bekleidungsgeschäften, Herrenund Damenhaarschnitte beim Friseur – was bedeutet das für einen trans Menschen?

Das ist gerade am Anfang schwierig, Zugang zu diesen gegenderten Bereichen zu bekommen, wenn man noch in der Transition ist. Mir ist das ein Mal passiert, dass ich in die Herrenumkleide wollte und weggeschickt wurde. Oder ich hatte einen Termin gemacht beim Friseur für einen Herrenhaarschnitt und als ich ankam, wurde ich in den Damenbereich gesetzt. Es wäre für alle trans Menschen einfacher, wenn es nicht diese strikten Trennungen gäbe. Wenn es einfach Haarschnitte für kurze und lange Haare gäbe und wenn Kleidung nicht nach Mann und Frau sortiert wird, sondern nach Körperformen und -größen. Ich habe auch sehr lange gebraucht, um mich ins Fitnessstudio zu trauen, weil ich mich ständig gefragt habe, in welche Umkleide muss ich denn gehen und wo würde ich vielleicht rausgeworfen werden? Das ist etwas, worüber Menschen, die nicht betroffen sind, nicht nachdenken.

Sie haben in ihrer Kindheit nicht über Ihre Gedanken gesprochen, aus Scham oder auch, weil Sie selbst nicht wussten, was da ist – was raten Sie Eltern, deren Kinder in einer ähnlichen Situation sind, wie Sie es waren?

Eltern rate ich, ihren Kindern zu glauben, ihre Kinder zu unterstützen, und keine Angst zu bekommen. Häufig wird Panik verbreitet, aber nur weil Du die Gedanken Deines Kindes ernst nimmst, heißt das nicht, dass Dein Kind morgen Hormone bekommt und operiert wird. Eltern sollten sich Hilfe und Unterstützung suchen, sich mit anderen Eltern von trans Kindern austauschen.

Was gewinnt die Gesellschaft generell – auch Menschen, die nicht trans sind beziehungsweise, die sich im binären System einordnen können – wenn sie mehr Vielfalt kennenlernt und zulässt? Was schenkt sie allen, wenn Sie Ihre Geschichte erzählen?

Vielleicht kann ich den Anstoß dazu geben, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und mit den eigenen Bedürfnissen. Je weiter wir uns von den festgelegten Geschlechterrollen entfernen, desto freier können alle Menschen sein. Es gibt sicher auch cis Männer, die sagen, ich würde mir gern die Nägel lackieren oder ich würde gern mal ein Kleid tragen, weil mir das gefällt, ohne dass ich auf der Straße angespuckt werden möchte. Es kann ein Gewinn sein, sich selbst immer wieder zu fragen, was macht mich glücklich und was wünsche ich mir und dem dann nachzugehen. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, in der man diesen Wünschen gefahrenfrei nachgehen könnte, dann profitieren wir am Ende alle davon.

Linus Giese hat Germanistik studiert und ist Blogger, Journalist und Buchhändler in Berlin. Auf www.buzzaldrins.de schreibt er über Bücher und auf www.ichbinslinus.de über seine Transition. Er twittert unter @buzzaldrinsblog.

Ute Brenner ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei ASF.

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