Die Vielschichtigkeit und Überschneidung von Ausschlussprozessen
Intersektionalität verpflichtet uns dazu, unsere Aufmerksamkeit ganz explizit auf die Vielschichtigkeit sozialer Ausschließungsprozesse und die damit verbundenen ungleich verteilten Diskriminierungs- und Lebensrisiken zu richten. In diesem gesundheitlich, ökonomisch und sozial turbulenten Jahr 2020 sind es vor allem die Angehörigen mehrfach marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, die einem erheblichen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. Diejenigen von uns, die nicht im Homeoffice arbeiten können, weil sie als Reinigungskräfte beschäftigt sind, im Supermarkt, Erntebetrieb oder in Fleischfabriken angestellt, oder U-Bahn- oder Busfahrer*innen sind, sind einer enorm hohen Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Sie sind zugleich in der Regel weniger durch gute gesundheitliche Ressourcen gepuffert (sie können sich teure Zusatzleistungen/-versicherungen nicht erlauben). Sie sind finanziell schlechter abgesichert als diejenigen von uns, die im Homeoffice arbeiten können. Sie arbeiten (und leben) in Beschäftigungs- und Wohnverhältnissen, die mit wenig sozialem Ansehen verbunden und schlecht bezahlt sind. Sie werden zwar als systemrelevant eingestuft, haben aber in der Realität sehr eingeschränkte Wahlmöglichkeiten – bei höheren Lebens- und Diskriminierungsrisiken. Mehrfach marginalisierte gesellschaftliche Gruppen sind in diesem Beschäftigungssegment und den damit verbundenen Transport- und Wohnverhältnissen stark überrepräsentiert. Unsere krisengeprägte Gegenwart intersektional zu betrachten bedeutet infolgedessen, ganz explizit anzuerkennen, dass diejenigen Menschen, die unseren Alltag sichern, sich selbst kaum effektiv schützen können. Diese Schutzlücke ergibt sich aus gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Exklusionen. Intersektionalität ist ein Instrument, um diese Gemengelage zu sortieren, zu analysieren, zu politisieren und zu verändern.
Die Marginalisierungssituation schwarzer Frauen der Arbeiter*innenklasse sichtbar machen und öffentlich thematisieren
Die Arbeitsmarktsituation Schwarzer Frauen* steht im Mittelpunkt der Geburtsstunde der Intersektionalitätstheorie. In dem Fall »Emma DeGraffenreid vs. General Motors (1976)« klagten fünf Schwarze Frauen in St. Louis (USA) gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin General Motors (GM). Schwarze Frauen als marginalisierte Gruppe wurden in Relation zu anderen gesellschaftlichen Gruppen sehr spät bei GM eingestellt. Firmenpolitik war zugleich »last hired, first fired« – zuletzt eingestellt, zuerst gefeuert. Diese Beschäftigungspolitik traf Schwarze Frauen überproportional stark. Schwarze weibliche Beschäftigte wurden überproportional häufig zum Ziel von betrieblich bedingten Kündigungen. Sie klagten vor Gericht, um einen wirksamen Schutz gegen ihre Arbeitsplatzdiskriminierung zu erreichen. Ihre Antidiskriminierungsklage wurde allerdings als gegenstandslos zurückgewiesen. Die Begründung des Gerichts lautete, eine Diskriminierung aufgrund rassistischer Markierung könne nicht festgestellt werden, schließlich arbeiteten auch mehrere Schwarze (Männer) bei GM am Fließband. Eine Diskriminierung aufgrund sexistischer Markierung könne nicht festgestellt werden, da mehrere (weiße) Frauen bei GM im Sekretariatsbereich arbeiteten. Schwarze Frauen galten als hinreichend in der Belegschaft von GM repräsentiert, wenn Frauen im Allgemeinen dort beschäftigt waren oder wenn Schwarze Männer dort beschäftigt blieben. Der Beweis der Diskriminierung wurde den Klägerinnen dadurch erschwert, dass sie durch mehr als eine politisch wirksame Differenz marginalisiert wurden. Die Klägerinnen waren weder ausschließlich als Frauen diskriminiert worden, noch ausschließlich als Schwarze Personen, sondern ganz spezifisch als rassistisch marginalisierte, weibliche Subjekte.
Intersektionalität strebt an, einen wirksamen Schutz für mehrfach marginalisierte Menschen und Communitys zu erwirken und zu etablieren. Hier wird das Antidiskriminierungsrecht in seiner Wirksamkeit kritisch betrachtet. Auf der Grundlage solcher Rechtsprechungen – wie beim Schlüsselfall »Emma DeGraffenreid vs. General Motors« – wird die intersektionale Bedeutung von Barrieren auf dem Weg zu einem gerechten Urteil nachvollziehbar.
Die innovative Kraft, die politische Kraft, die von der Intersektionalitätstheorie ausgeht, besteht darin, komplexe Lagen der Marginalisierung in ihrer Verwobenheit wahrzunehmen und öffentlich zu thematisieren. Es gilt hier, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen sozial konstruierten Differenzen herauszuarbeiten und ihre Wechselwirkungen und die damit zusammenhängende Verletzungsmacht zu erfassen. Sowohl Geschlechterhierarchien und Exklusionen als auch rassistische Hierarchien und Exklusionen, die in den Beschäftigungsverhältnissen von GM verankert und normalisiert waren, machten es Schwarzen Frauen unmöglich, lange im Betrieb zu bleiben, sich in ihrer Betriebszugehörigkeit sicher zu fühlen, sich im Betrieb zu bewähren und Einfluss auf den Betrieb auszuüben, um dann sogar in Gestaltungs- und Entscheidungspositionen aufsteigen zu können.
Die Wurzeln der Intersektionalitätsbewegung
Kimberlé Williams Crenshaws Theorie der Intersektionalität ist ein »Travelling Concept« – ein reisendes Konzept. »Travelling Concept« bezeichnet eine Konzeption, welche zwar in einem ganz spezifischen geopolitischen Kontext und zu einer ganz spezifischen Zeit entworfen wurde, eine Übertragbarkeit aber weit über diesen Kontext und diese Zeit hinaus entfaltet und daher vielfach aufgegriffen und angepasst wird. Intersektionalität hat inzwischen eine prägnante Bedeutung für all diejenigen gewonnen, die politisch wirksame Differenzen und die mit ihnen zusammenhängenden Machtrelationen vernetzt zu denken und zu bearbeiten suchen. Beim Transfer des Konzepts wird allerdings das eigentliche Fundament von Intersektionalität häufig ignoriert und nahezu komplett ausgeblendet. So in der »Critical Race Theory« (Rassismuskritik) und in der Critical-Race-Theory-Bewegung Schwarzer Rechtswissenschaftler*innen. Nach Crenshaw gleiche daher die reisende Intersektionalitätstheorie oder das, was von ihr übrig bleibt, der außerirdischen Kinderfilm-Figur ET. Diese versucht verzweifelt nach Hause zu telefonieren, kann dort aber keine Verbindung aufbauen, da entscheidende Bestandteile des eigentlichen Zusammenhangs, die sie ausmachen, fehlen.
Die Ausblendung der in der Intersektionalitätstheorie enthaltenen Rassismuskritik ist deswegen problematisch, weil sie die ungerechte Verteilung von Schutz vor Ausbeutung und Exklusion (Diskriminierungsschutz), die zutiefst rassistisch geprägt ist, verleugnet. Weißsein wird in der Rechtsprechung soziohistorisch privilegiert – als die Norm – behandelt (The Color of Justice). Eine intersektional-rassismuskritische Auseinandersetzung mit der begrenzten Reichweite des Diskriminierungsschutzes entlarvt diese bedeutende Dimension rassistisch verfasster Exklusionen. Sie erzeugt einen bedeutenden kritischen Blick auf die fehlende Verteilungsgerechtigkeit innerhalb des Rechtssystems. Gerechtigkeit (Rechtsgleichheit) wird erkennbar als eine gesellschaftliche Ressource, die marginalisierte Gruppen exkludiert. Die Rechtsprechung, wie andere gesellschaftliche Instrumente, ist – zu eng – am Lebens-, Arbeits- und Familienmodell weißer, bürgerlicher (christlich sozialisierter), heterosexueller cis Männer konzipiert. Diese Gruppe wird als Prototyp der menschlichen Erfahrung täglich reproduziert. Ihre Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge und ihre Weltauslegungen werden universalisiert. Eine nahezu ausschließliche Orientierung an ihrer Lebensrealität ergibt eine eingeschränkte Perspektive auf die pluralen Realitäten der Unsichtbarkeit, Ausbeutung und ungleich verteilte Diskriminierungsrisiken. Und sie führt zu solch einer eingeschränkten Rechtsprechung wie im Schlüsselfall »Emma DeGraffenreid vs. General Motors«.
Intersektionale Gerechtigkeit und politische Intersektionalität
Politische Intersektionalität bedeutet, dass Gleichstellungsmaßnahmen und Veränderungsstrategien – auch und gerade jetzt zur krisenhaften Zeit einer globalen Gesundheitskrise – danach beurteilt werden müssen, wie sie imstande sind, die Teilhabebarrieren und die Diskriminierungsrisiken jener am stärksten marginalisierten Zugehörigen von dehumanisierten Gruppen sichtbar zu machen. Wie effektiv sind sie in ihrem Bestreben, mehrfach marginalisierte Menschen und ihre Kollektive vor Ausbeutung und erneuten Abwertungen zu schützen? Intersektionale Feminismen sind dort entstanden, wo die feministische Theorie und die antirassistische Politik nicht imstande waren, mehrfach marginalisierte Angehörige der sozialen Klasse »Frauen« und der sozialen Klasse Schwarze Menschen anzuerkennen. Feministische Theorie, die nicht intersektional ausgerichtet ist, verallgemeinert das Lebens-, Arbeits- und Familienmodell weißer, bürgerlicher (christlich sozialisierter), heterosexueller cis Frauen. Antirassistische Politik, die nicht intersektional ausgerichtet ist, verallgemeinert das Lebens-, Arbeits- und Familienmodell Schwarzer, bürgerlicher (christlich sozialisierter), heterosexueller cis Männer. Die aus diesen beiden Kontexten generierten Gleichstellungsstrategien erreichen nur einen begrenzten Schutz, nämlich den der privilegiertesten Angehörigen der jeweiligen sozialen Klasse. Politische Intersektionalität bedeutet infolgedessen eine explizite Verpflichtung dazu, nicht immer nur – oder in erster Linie – die privilegiertesten Angehörigen einer sozialen Gruppe zu repräsentieren und zu schützen, sondern die mehrfach marginalisierten Angehörigen ins Zentrum der politischen Strategie zu stellen und das jeweilige Diskriminierungsverhältnis zuerst und in erster Linie von dieser mehrfach marginalisierten Position aus zu konzipieren.
Equal Protection und Equal Safety
Die öffentliche Tötung des 46-jährigen George Floyd wurde von der 17-jährigen Darnella Frazier bezeugt, gefilmt und anschließend veröffentlicht. An der Nahtstelle dieser Ereignisse wurde unvermeidlich offenkundig, was die #BlackLivesMatter-Bewegung seit sieben Jahren (2013) kontinuierlich in den Fokus holt, nämlich dass die Normalisierung von Anti-Schwarzem Rassismus folgenreich ist, dass Anti-Schwarzer Rassismus auf einer konstanten Geringschätzung und Abwertung von Schwarzem Leben gründet und dass Anti-Schwarzer Rassismus dehumanisiert und tötet. In den aktuellen von der #BlackLivesMatter-Bewegung inspirierten Mobilisierungen treffen sich bezeichnenderweise zwei prägnante Bedeutungslinien: die massive soziale, gesellschaftliche und gesundheitliche Ungleichverteilung von Ressourcen, die unter anderem dazu geführt hat, dass vor allem rassistisch marginalisierte und ökonomisch deprivilegierte Gruppen überproportional an COVID-19 sterben müssen und die kollektiven Mobilisierungen und Kommunikationsformen intersektional diskriminierter Akteur*innen selbst, die ihre unsichtbar gehaltenen Diskriminierungsrisiken einer öffentlichen Debatte zuführen.
Während öffentliche Institutionen weiterhin daran scheitern, einen wirksamen Schutz für marginalisierte Gruppen zu realisieren, mobilisieren diese Gruppen mithilfe intersektionaler Strategien eine Erhöhung ihrer Sichtbarkeit. Sie thematisieren öffentlich ihre Ausbeutung, die Geringschätzung ihrer Arbeit, ihrer Körper, ihrer Lebensformen und ihres Lebens. Die #MeToo- Bewegung wurde zwar durch eine weiße amerikanische Schauspielerin bekannt gemacht, initiiert wurde sie allerdings von der intersektional arbeitenden Schwarzen Sozialarbeiterin Tarana Burke, als solidarische Antwort auf ein Mädchen of Color, das ihr von ihrem Überleben von sexualisierter Gewalt erzählt hatte. Intersektional arbeitende französische Kollektive griffen #MeToo auf für ihre eigene Mobilisierung #BalanceTonPorc (Verpfeife dein Schwein!). Die #BlackLivesMatter-Bewegung riefen drei Schwarze queer-feministisch positionierte Frauen* ins Leben (Alicia Garza, Patrisse Khan-Cullors und Opal Tometi). Ihre intersektionalen Arbeiten werden in den öffentlichen Diskursen der Schwarzen Bewegung jedoch häufig ohne die Nennung ihrer Namen und Positionierung weitervermittelt. Die intersektional arbeitende französische Streik-Initiative »Frotter, frotter, il faut payer« (Schrubben, schrubben, ihr bezahlt!) ist ein Zusammenschluss vorwiegend Schwarzer weiblicher Reinigungskräfte – Frauen, die in teuren Hotels Zimmer reinigen und ausgebeutet werden. Sie machen auf die gesellschaftliche Diskrepanz aufmerksam, dass sie unsichtbar gehalten werden, während sie das Luxusleben eines privilegierten Segments der Gesellschaft mit ihrer Arbeit subventionieren und mit ihrer körperlichen Gesundheit draufzahlen.
Und schließlich arbeitet das Schwarze feministische Kollektiv Generation Adefra – Schwarze Frauen in Deutschland seit über 30 Jahren kontinuierlich intersektional. Aktuell leitet eine Arbeitsgruppe von Adefra im Rahmen der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft (2015–2024) Schritte zur Realisierung der Gleichstellung von Menschen afrikanischer Herkunft und zum Abbau von Anti-Schwarzen-Rassismus in Deutschland. Am Anfang dieses Gleichstellungsprozesses wurde eine Bestandsaufnahme zu Formen der Anti-Schwarzen-Dehumanisierung im Bildungssystem, im Gesundheits- und Pflegewesen, im Arbeitsleben, im Kulturbetrieb und im öffentlichen Leben erarbeitet. Auf der Grundlage der von Berliner*innen afrikanischer Herkunft zusammengetragenen Geschichten alltäglicher und systemischer Anti-Schwarzen-Diskriminierung wurden in kollektiver Arbeit Forderungen und Handlungsbedarfe an Politik und Verwaltung formuliert. Diese Forderungen wurden im Sinne der politischen Intersektionalität daran gemessen, inwiefern sie den bislang fehlenden Schutz, vor allem für mehrfachmarginalisierte Berliner*innen afrikanischer Herkunft, in dem jeweiligen gesellschaftlichen System effektiv verankern können. Auf der Grundlage der identifizierten Handlungsbedarfe wird aktuell ein Maßnahmenkatalog im Format einer Gesamtstrategie zur Gleichstellung Menschen afrikanischer Herkunft und zum Abbau des Anti-Schwarzen-Rassismus in Berlin entworfen.
Das grundlegende Streben, effektive intersektionale Schutzkonzeptionen zu realisieren, basiert zwar formal auf der Durchsetzung von Rechtsgleichheit; in ihrer Tiefenstruktur ist es jedoch auf eine Anerkennung der inneren Diversität und der damit verbundenen Mehrfach-Marginalisierungen angewiesen, damit gleichzeitig Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit Wirklichkeit werden.
Prof. Dr. Maureen Maisha Auma ist Professorin für Kindheit und Differenz (Diversity Studies) an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zurzeit ist sie Gastprofessorin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin. Sie ist seit 1993 aktiv in der Schwarzen Feministischen Selbstorganisation Generation Adefra – Schwarze Frauen in Deutschland. Gemeinsam mit Katja Kinder und Peggy Piesche führte sie 2018 den Berliner Konsultationsprozess »Sichtbarmachung der Diskriminierung und sozialen Resilienz Menschen afrikanischer Herkunft« im Rahmen der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft (2015–2024) durch.