May Ayim wäre in diesem Jahr 60 Jahre alt geworden. Sie zählt zu den prominentesten Vertreterinnen der Schwarzen Community in Deutschland. Ihre Worte und Werke führten nicht nur zur Sichtbarmachung von Schwarzen Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sondern auch dazu, eine längst verloren geglaubte Geschichte bekannt zu machen.
May Ayim – mit bürgerlichem Namen Sylvia Brigitte Gertrud Opitz – kam 1960 als Tochter einer weißen deutschen Mutter und eines ghanaischen Austauschstudenten in Hamburg zur Welt. Sie wurde kurz nach ihrer Geburt in ein Heim gegeben und im Alter von 18 Monaten von der weißen deutschen Familie Opitz adoptiert, sodass sie als einziges Schwarzes Kind in einer weißen Familie mit vier weiteren weißen Geschwistern in Münster aufwuchs. Aufgrund der andauernden Nachwirkungen des deutschen Kolonialismus machte sie als Schwarzes Kind vielfältige Erfahrungen mit Rassismus, der noch heute fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft ist:
»Jahrelang lebte ich mit dem Empfinden, in der deutschen Gesellschaft weder eine Geschichte noch eine Zukunft zu haben, sondern eines Tages auswandern zu müssen. Daß das sehr belastend ist, steht außer Frage. Inzwischen ist mir klar, daß dies keine Einzelerfahrung ist und mein Erleben exemplarisch den Umgang mit einer Bevölkerungsgruppe widerspiegelt, die im Bewusstsein weiter Teile der deutschen Gesellschaft einfach nicht existent ist.«
Nach dem Abitur studierte May in Münster und Regensburg Pädagogik. Zu diesem Zeitpunkt resultierten die Identitätsangebote in ihrem Leben im Wesentlichen aus den ihr von fremden Menschen aufoktroyierten Vorstellungen dazu, wer sie sei – was zu Minderwertigkeitsgefühlen und dem Gefühl des »Andersseins« geführt hat. Dies veranlasste sie, das erste Mal nach Ghana zu reisen, um ihr kulturelles Erbe, das mittlerweile integraler Bestandteil ihres Selbstfindungsprozesses geworden war, aufzuspüren. Die Begegnungen mit ihrer ghanaischen Großfamilie beschrieb May Ayim später mit dem Sinnbild eines »walnussmangobaums « (1995) – ein Baum des Lebens, der Früchte aus beiden Ländern trägt. 1986 zog May nach West-Berlin, wo sie zunächst andere Schwarze Frauen kennenlernte, unter anderem die Schwarze US-amerikanische Wissenschaftlerin, Aktivistin und Poetin Audre Lorde.
Auf den Spuren der eigenen Geschichte
Durch Audre Lordes Initiative entstand die Anthologie »Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte «, in der May Ayim ihre Diplomarbeit veröffentlichte. In Analogie zu »Afro-American« entwickelte sie im Austausch mit anderen Schwarzen deutschen Frauen, unter anderem Katharina Oguntoye, die Selbstbenennung »Afrodeutsch«, was nicht den Beginn von Schwarzer deutscher Geschichte anzeigte, aber dennoch ein Wissensmoment symbolisierte, welches durch den Kulturtransfer der Schwarzen Bewegung aus den Vereinigten Staaten ermöglicht wurde. I
n der Tradition der Schwarzen US-Amerikaner*innen belegt »Farbe bekennen« das Vorhandensein einer historischen Bedeutungsgeschichte aus der Perspektive von Schwarzen deutschen Frauen unterschiedlicher Generationen, die alle die Gemeinsamkeit teilen, Schwarz und deutsch zu sein. Diese »Doppelidentität« kommunizierte May später in ihren Gedichten »afro-deutsch I« und »afro-deutsch II«, die 1995 in ihrem ersten Gedichtband »blues in schwarz weiss« erschienen. Gleichzeitig forderte sie die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft heraus, sich mit der Geschichte des Kolonialismus auseinanderzusetzen, und verhandelte das Selbstverständnis dessen, was als Deutsch angenommen oder abgelehnt wurde, neu:
»Sie sind afro-deutsch?
… ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch.
Ist ja ’ne interessante Mischung!
Wissen Sie, manche, die denken ja immer noch,
die Mulatten [sic], die würden’s nicht
so weit bringen
wie die Weißen (…)
Wollen Sie denn mal zurück?
Wie, Sie waren noch nie in der Heimat von Papa?
Ist ja traurig… Also, wenn Sie mich fragen:
So ’ne Herkunft, das prägt eben doch ganz schön.«
1987 begann May Ayim eine Ausbildung zur Logopädin, eine Berufssparte, die ihr erlaubte, den Rassismus, der sich in der deutschen Sprache verbirgt, aufzudecken. Rassismus und Sexismus wurden fortan feste Bestandteile ihrer Forschungen, wie auch der Titel ihrer Examensarbeit »Ethnozentrismus und Sexismus in der Sprachtherapie« (1990) zeigte. Nach erfolgreicher Beendigung ihrer Ausbildung arbeitete sie freiberuflich als Logopädin und nahm diverse Lehraufträge an. Um den Übergang von einer auferlegten, fremdbestimmten zu einer selbstbestimmten Identität zu symbolisieren, legte sie schließlich 1992 ihren Adoptivnamen Opitz ab und nahm den Namen ihres ghanaischen Vaters, Ayim, an.
»In dem Moment, als ich zu mir ›ja‹ sagen konnte, ohne den geheimen Wunsch nach Verwandlung, war die Möglichkeit gegeben, die Brüche in mir und meiner Umgebung zu erkennen, zu verarbeiten und aus ihnen zu lernen. Ich bin nicht an meinen Erfahrungen zerbrochen, sondern habe aus ihnen Stärke und ein besonderes Wissen gewonnen.«
In einem Land, in dem »Rasse« und Nationalität aufs Engste miteinander verbunden sind, fand May Ayim als Schwarze Frau, der das Deutschsein abgesprochen wurde, ihre spezifischen Identitätsangebote nicht in der weißen Mainstream-Literatur, sondern in den vielstimmigen wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Literaturproduktionen Schwarzer Autor*innen der Welt.
May Ayim litt im Jahr 1996 unter großen körperlichen und psychischen Belastungen und verbrachte mehrere Aufenthalte in einer Psychiatrie, wo ihr zusätzlich die Diagnose Multiple Sklerose gestellt wurde. Am 9. August 1996 sprang May Ayim in Berlin-Kreuzberg vom 14. Stockwerk eines Hochhauses in den Tod.
Ihr Wirken lebt weiter
Im Jahr nach ihrem Tod erschien im Orlanda Verlag in Berlin May Ayims zweiter Gedichtband »Nachtgesang« (1997) sowie ein Sammelband mit dem Titel »Grenzenlos und Unverschämt« (1997), der ihre politischen und biografischen Essays, Interviews und Fotos beinhaltet. Die weiße deutsche Filmemacherin Maria Binder dokumentierte mit »Hoffnung im Herz« (1997) die Spuren ihres Lebens und ihrer Werke. Mit der Auslobung des May Ayim Awards, des ersten Schwarzen Deutschen Literaturpreises, wurde in Kooperation mit der deutschen Sektion der UNESCO im Jahr 2004 im Gedenken an May Ayim die Traditionslinie für das literarische Schaffen Schwarzer Menschen in Deutschland gelegt, wenngleich der Preis bislang nur einmal verliehen wurde.
Mit der Umbenennung der Berliner Straße Gröbenufer in May-Ayim-Ufer 2010 sollte es die Schwarze Community in Deutschland schaffen, sich als selbstbestimmte Teilkultur in die deutsche Nation und deren Geschichte und Gegenwart einzuschreiben. Mit der Straßenumbenennung wird anstelle eines Kolonialherren eine Schwarze Aktivistin geehrt und es wurde ein Grundstein dafür gelegt, dass ein kritischer Bezug zum deutschen Kolonialismus hergestellt und May Ayim gewürdigt wird.
Zu Mays 20. Todestag 2016 erschien im Orlanda Verlag in Berlin die Anthologie »Sisters and Souls« (2015), aus der die jährliche sequenzielle Theaterreihe »M(a)y Sister« am HAU Hebbel am Ufer Theater in Berlin-Kreuzberg entstanden ist. Zwar hat May Ayim nie bewusst die Rolle des »change agent« angenommen, dennoch war es stets ihr Ziel, gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Dies ist ihr zweifelsohne gelungen.
Dr. Natasha A. Kelly ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin mit den Forschungsschwerpunkten (Post-)Kolonialismus und Feminismus. Die Schwarze Autorin, Kuratorin und Dozentin hat an zahlreichen Institutionen in Deutschland und Österreich gelehrt und referiert und ist seit vielen Jahren in der Schwarzen deutschen Community engagiert. Ihr Debütfilm »Millis Erwachen« wurde 2018 von der 10. Berlin Biennale kommissioniert und international aufgeführt.
Erstveröffentlichung im Digitalen Deutschen Frauenarchiv