Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit gedeiht ein Rassismus, der
sowohl kulturalistisch als auch religiös aufgeladen ist und rechtspopulistisch
kanalisiert wird.
„Man mag es einen Kulturbruch oder auch anders nennen: Wenn die beschriebenen Trends sich fortsetzen, dann wird die säkulare und aus unserer Sicht kulturell vorzuziehende Lebensform Europas letztlich unterlaufen durch die höhere Fertilität der muslimischen Migranten“. Dieses Zitat aus der Feder eines „der profiliertesten politischen Köpfe der Republik“, so der Klappentext des derzeit meist diskutierten Buches in Deutschland, wirft ein Schlaglicht auf den aktuellen politischen Diskurs – „Deutschland schafft sich ab“. Der Skandal, dass im Jahr 2010 in Deutschland ein ‚Sachbuch‘ zum Bestseller wird, dessen Autor eugenische Züchtungs- und Selektionstheorien zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse propagiert, wurde im Verlauf der populistisch hochgeschraubten Debatte überlagert von einem wesentlich größeren Problem – der medialen und politischen Vermarktung derartiger Thesen.
Als das wirkliche Problem offenbarte sich nicht der Sarrazin‘sche Rassismus, sondern dessen kulturindustrielle Resonanzkörper. Der öffentliche Widerhall bezog sich nicht auf die eugenischen Zuchtphantasien, sondern auf die via Bild-Zeitung und andere Medien in verdauliche Häppchen verpackten Hau-Drauf-Parolen über die „Faulen“, „Dummen“, „Schwachen“, „Fremden“ und „Verschleierten“ und deren Bevorzugung durch ‚die da oben‘. Das ohnehin schon späte und mit erheblichen Mühen ins öffentliche Bewusstsein transportierte Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft ist dabei zum Kristallisationspunkt populistischer Anfeindungen mit rassistischen Untertönen auserkoren worden. Diese kulturalistisch verpackte Kampfansage speist sich zwar inhaltlich aus der ideologischen Mottenkiste des Rechtsextremismus, erscheint jedoch im Gewand der Meinungsfreiheit und der Enttabuisierung. Damit dient das rassistische Ressentiment als Metapher zur Kritik des ‚politischen Establishments‘ und mutiert zum Vehikel allgemeiner Wut auf die ‚politischen Eliten‘. Die laut Sarrazin ‚zuviel produzierten kleinen Kopftuchmädchen‘ sind so zur sprachlichen Versinnbildlichung einer angeblichen ‚Enttabuisierung verordneter Sprechverbote‘ geworden.
Was vorher noch als ‚Lingua Tertii Imperii‘ im öffentlichen Bewusstsein verankert war, wurde im Laufe der Sarrazin-Debatte als ‚Recht auf Meinungsfreiheit‘ medial vermarktet. Der Resonanzboden für solche Parolen spiegelt sich z.B. wider in dem Ergebnis der jüngsten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Die Mitte in der Krise – rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010“ von Oliver Decker und Elmar Brähler. Danach stimmen rund ein Viertel der Befragten ausländerfeindlichen Aussagen zu; die Zustimmung zu islamfeindlichen Aussagen ist auf über 50 Prozent angestiegen. Auch Befragungen zur ‚gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘ kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Politikverdrossenheit und soziale wie ökonomische Verlustängste gehen einher mit autoritären, sozialdarwinistischen und (kultur)rassistischen Forderungen, bei denen besonders die Feindseligkeit gegenüber Muslimen die Funktion eines Blitzableiters für diffuse angestaute Ressentiments übernimmt
Ein Ausdruck des politisch wie medial gepushten Kulturkampfes ist das Aufkommen des europäischen Rechtspopulismus. Dessen Anziehungskraft speist sich aus der Bündelung unterschiedlicher Feindbilder und Bedrohungsszenarien: Die bürokratische EU, der Terrorismus und der Islam, die Zuwanderung, das Verschwinden von Sicherheiten und Orientierungsmaßstäben – all dies wird populistisch verdichtet zur Projektionsfolie eines Kampfes des Volkes und seiner aufrechten Tribunen gegen das Böse und die Eliten als dessen willige Vollstrecker. Die kulturreligiöse Verklausulierung der Feindbilder prägt den Tenor des rechtspopulistischen Aufschreis in Europa: Das Schreckgespenst vom kulturellen und demografischen ‚Untergang des Abendlandes‘ ist dessen Inhalt. Dieser drohe durch die ‚kulturfremden Zugewanderten‘ und werde gar eigenmächtig betrieben durch die ‚politische Klasse‘ mittels ihrer ‚Multi- Kulti‘-, ‚Toleranz‘- und ‚political-correctness‘- Verordnungen, so die Diktion. Die politische Sprengkraft eines solchen kulturreligiös überformten Rassismus zeigte Ende 2009 die Volksabstimmung gegen Minarettbau in der Schweiz: Für die rechtspopulistisch modernisierte extreme Rechte in Europa einschließlich ihres konservativen Pendants hatte diese von der SVP inszenierte Volksabstimmung “Vorbildcharakter” – von Italien über Österreich und Frankreich bis in die Niederlande wurden Stimmen zur Nachahmung laut. Das kulturreligiös aufgeladene Bedrohungsszenario dient zur Modernisierung des rassistischen Weltbildes. „Daham statt Islam“, lautete etwa in diesem Jahr ein Wahlkampfslogan der österreichischen FPÖ, die ihren „Tabubruch‘ auch in Form von Computer-Propagandaspielen inszeniert, die sich durch das Abschießen von Minaretten und Muezzinen auszeichnen. In der belgischen Stadt Antwerpen gründete der Vlaams Belang im Jahr 2008 ein europäisches Bündnis „Städte gegen Islamisierung“ als rechtspopulistisches Pendant der von der UNESCO initiierten Städtekoalition gegen Rassismus. Als „Star“ des europäischen antiislamischen Rechtspopulismus wird Geert Wilders herumgereicht, der mit der Inszenierung seines plump gemachten Hetzfilms „Fitna“ exemplarisch vorexerziert hat, wie das Spiel mit den Medien zu betreiben ist. Der Kopf der ‚Partei für die Freiheit (PVV)‘ hat die Früchte geerntet, die in den Niederlanden – lange schon vor der Sarrazin-Debatte in Deutschland – über den öffentlichen Dammbruch durch seinen verstorbenen Vorgänger Pim Fortuyn gesät wurden.
Der kampagnenorientierte Kulturrassismus zielt auf die politische Mitte. Dazu benutzt er mehrheitsfähige rassistische Diskurse zur Verschiebung der politischen Achse nach rechts. Religiös verklausulierter Kulturrassismus, nationalistischer Anti-EU-Protest und Anti-Establishment-Gehabe entfalten deshalb Wirkungsmächtigkeit, weil sie auf realen Ängsten und Problemen fußen und diese mit simplen Feindbild-Projektionen politisch besetzen. Sie sind damit zugleich ein Seismograf für die Krise der Demokratie. Trotz des lauten Jubels über die Wirkung der von Thilo Sarrazin angeheizten Debatte hat die extreme Rechte in Deutschland bislang noch keinen politischen Profit daraus ziehen können: Bestrebungen der ‚Republikaner‘, im Bündnis mit der extrem rechten ‚Pro-Bewegung‘ politisch punkten zu können, erweisen sich bislang als wenig Erfolg versprechend. Die größte Gefahr hierzulande liegt aktuell in der Transformation der Integrationsdebatte in eine Kulturkampfdebatte mit weit reichenden Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der im Duktus von Aufklärung und Meinungsfreiheit beschworene Flaschengeist der ‚Islamisierung‘ droht zum entfesselten Geist eines Rechtspopulismus in Europa zu mutieren.
Alexander Häusler, Jahrgang 1963, ist Sozialwissenschaftler und arbeitet in der Arbeitsstelle Neonazismus/Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus der FH Düsseldorf.