Als ASF-Freiwillige habe ich in Antwerpen die Perspektiven und Grenzen
von Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Kulturen, Religionen
und Lebensgeschichten kennengelernt.
Das Frauenhaus ‚Vrouwenhuis‘ des Protestant Sociaal Centrum liegt in Antwerpen Nord, einem so genannten ‚sozialen Brennpunkt‘. Das Viertel hat eine sehr schlechte Infrastruktur; die Häuser und Straßen sind mangelhaft, die meisten BewohnerInnen des Viertels sind Geringverdienende, Sozialhilfeempfangende, einkommensschwache MigrantInnen und Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Bis vor kurzem hatte ‚Ärzte ohne Grenzen‘ einen Sitz in diesem Viertel, da die Gesundheitsversorgung anders nicht gewährleistet werden konnte. Zugleich werden durch BürgerInnenkampagnen viele bunte Straßenfeste organisiert, die Stadt Antwerpen versucht mit kreativen Veranstaltungen und Sanierungen das Viertel aufzuwerten. Das ‚Vrouwenhuis‘ ist eine Begegnungsstätte und Treffpunkt für Frauen, die aus ihrem Herkunftsland geflohen sind und nun in Belgien leben, sei es mit oder ohne Papiere. Viele der Frauen leben seit Jahren in Antwerpen, manche befinden sich im Asylverfahren, wenige haben dieses endgültig erfolgreich abgeschlossen. Das Ziel des Frauenhauses ist es, den Frauen eine Anlaufstelle zu bieten, wo sie sich ausruhen und austauschen sowie Distanz zu ihrer Familie und ihren Männern schaffen können. Im Haus sind zwei Angestellte und eine ASF-Freiwillige beschäftigt. Die Sprachkurse und Workshops werden zum Großteil von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen gestaltet.
Das Frauenhaus bietet zwei Mal die Woche ein ‚Inloop-Huis‘ an. An diesen Tagen dürfen alle Frauen mit ihren Kindern vorbei kommen, es wird gequatscht, gekocht und nicht selten getanzt. Ziel ist es, den Zugang zum Beratungs- und Betreuungsangebot im Frauenhaus möglichst ohne Hemmschwellen zu gestalten. Den Frauen soll Raum und Zeit zur Verfügung gestellt werden, um rechtliche und praktische Fragen zu klären sowie sich über Sorgen, Ängste aber auch Hoffnungen und Wünsche auszutauschen. Viele der Frauen sind traumatisiert, depressiv, leben isoliert und in Anonymität. Die Gründe für die Isolation finden sich meistens in den Lebensumständen; die Frauen leben in einem eng gesteckten sozialen Umfeld – bestehend zumeist nur aus der eigenen Familie sowie Mitgliedern des eigenen Kulturkreises.
Das Frauenhaus ist für diese Frauen oft die erste Möglichkeit, sich über diese Grenzen hinweg auszutauschen und zu verständigen. Der thematische Rahmen wird hierbei nicht vorgegeben. Der Austausch wird durch Alltagsthemen in Gang gesetzt und führt oft zu intensiven und emotionalen Gesprächen. Kommuniziert wird auf Niederländisch, Französisch, Englisch und mit Händen und Füßen. Für mich als ASF-Freiwillige waren diese Nachmittage eine prägende Erfahrung. Die Frauen berichteten mir von ihrer Lebensrealität in ihrer Heimat und in Belgien. Oft wirkten die Gespräche locker und unbeschwert, gelegentlich merkte ich erst im Nachhinein, wie bedeutend das Gespräch gewesen war. Ich nutzte die Zeit, um mit den muslimischen Frauen über ihre traditionelle und religiöse Prägung zu sprechen. Die Erziehung der Töchter lag mir dabei sehr am Herzen. Oft fiel es mir schwer zu verstehen, warum manche Mädchen auch gegen ihren Willen Kopftücher tragen mussten oder keinen belgischen Freund haben durften. Die Frauen brachten mir auf eine ehrliche und selbstverständliche Art ihren kulturellen Hintergrund nahe. Dabei wählten sie keine abstrakten Bezeichnungen wie ‚Gewalt im Namen der Ehre‘ oder ‚Zwangsheirat‘, sondern versuchten mir ihre Gewohnheiten und Traditionen direkt zu vermitteln. Noch immer bin ich sehr dankbar für diese Gespräche, die mich lehrten, dass ich andere Perspektiven verstehen und mögliche (Vor-) Urteile ablegen kann, aber dass es ebenso Perspektiven und Einstellungen geben darf und gibt, die meinen Vorstellungen entgegenstehen und ich diese nicht tolerieren und akzeptieren muss.
Viele der Frauen sind einer Mehrfachbelastung ausgesetzt. Sie müssen sich um die Erziehung ihrer Kinder, den Haushalt und um das Einkommen kümmern. Von den Frauen, die sich in einem Asylverfahren befinden, wird verlangt, die niederländische Sprache zu lernen und an Bildungsprogrammen teilzunehmen. Um die erschöpften Frauen zu motivieren, werden im Frauenhaus Näh- und Malkurse angeboten. Gestaltet werden die Kurse, meist ehrenamtlich, von Künstlerinnen. Die Leiterin des Frauenhauses, Marleen, ist ausgebildete ‚kreative Therapeutin‘ und begleitet die Kurse fachlich. Das Ziel: den direkten Austausch über das gemeinsame Malen und Gestalten anzuregen. Der Gedanke dahinter ist, dass den Frauen durch das künstlerische Arbeiten eine Projektionsfläche für ihre Gefühle und Gedanken geboten wird, über die sie direkt mit anderen sprechen können. Aus den kreativen Kursen entstand vor zwei Jahren das Projekt ‚wereldwijde rok‘ (‚weltweiter Rock‘). Die Frauen nähten einen großen, bunt geschmückten Rock. An den Rock hängten die Frauen individuell gestaltete Taschen, die mit selbst verfassten Gedichten und Erzählungen ihrer Lebensgeschichte gefüllt wurden. Das Besondere: Die Schriftstücke sind mit den Namen der Frauen unterschrieben – und damit ein Schritt in das öffentliche Bewusstsein der Gesellschaft. Die Entstehung des Rockes wurde filmisch begleitet, eine Broschüre erläutert das Projekt und bildet einige Gemälde der Frauen ab. Ein wichtiger Moment war die feierliche Vernissage der Ausstellung im Beisein der Frauen und vieler Gäste. Das Kunstprojekt ermöglichte den Frauen, sich im kleinen Rahmen mit ihrer Identität, ihrer Vergangenheit und ihren Wünschen und Zielen auseinanderzusetzen. Die Ausstellung schuf einen Rahmen für die Präsentation der Arbeiten, ohne die Frauen unvorbereitet vor ein Publikum zu stellen. Das kreative Arbeiten, die gemeinsamen Unterhaltungen, das Befragen, Austauschen und Erzählen schenkte den Frauen Selbstvertrauen – eine Grundvoraussetzung für diesen Schritt an die Öffentlichkeit. Die Frauen und ich durften durch dieses Projekt erleben, dass die eigenen Erfahrungen, seien sie positiv oder negativ, ein Teil der eigenen Identität sind, der keiner Rechtfertigung bedarf, aber eine Auseinandersetzung verlangt. Dieses Kunstprojekt ist nun ein Jahr her, die kreativen Workshops werden weiter angeboten. Einige der Frauen konnten bereits Bilder verkaufen. Ihren Lebensunterhalt können sie damit nicht verdienen, aber sie erfahren, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird. Das ASF-Projekt ‚Vrouwenhuis‘ hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, einen wertfreien und selbstbestimmten interkulturellen Austausch anzustreben und zu fördern.
Lisa Mangold, Jahrgang 1988, war bis August 2009
als ASF-Freiwillige im Frauenhaus Vrouwenhuis in
Antwerpen in Belgien.