Letzte Hoffnung Shanghai

Michael Blumenthal, von 1997 bis 2014 Direktor des Jüdischen Museums Berlin, entkam als Kind dem Holocaust. Seiner Familie gelang die Flucht nach Shanghai, das tausenden Juden Zuflucht gewährte.

Als sich die Kunde vom Grauen der Vernichtungslager 1945 verbreitete, stand Michael Blumenthal im Shanghaier Ghetto fassungslos vor einer Hausmauer. Vis-à-vis seiner Unterkunft im Stadtteil Hongkou waren an der Fassade lange Listen angeschlagen. Der damals 18-Jährige las und las – Namen von Überlebenden, die der Mordmaschinerie der Nazis entkommen konnten. Kein einziger seiner Berliner Kindheitsfreunde fand sich darunter. Blumenthal hatte nach der Flucht in Shanghai gehungert, Schläge erduldet und Demütigungen. Aber er, seine Schwester und die Eltern lebten.

Die allermeisten im Shanghaier Ghetto hatten Konzentrationslager vor der Flucht als Stätten organisierter Gewalt erlebt, nicht jedoch als Orte systematischer Vernichtung. Fern von Europa wog die Hoffnung schwerer als alle Befürchtungen. Doch das Kriegsende machte die schlimmsten Ängste zur Gewissheit: Die Nazis hatten sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens ermordet. Michael Blumenthal, geboren in Oranienburg bei Berlin, schämte sich seiner Heimat, begann die deutsche Sprache zu hassen.

Als die Blumenthals am 10. Mai 1939 in China eintrafen, lagen Monate der Verzweiflung hinter ihnen. Die Gestapo hatte den Vater, einen Textilkaufmann, nach den Novemberpogromen ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt und gefoltert. Erst als die Mutter Schiffsbilletts nach Shanghai vorzeigen konnte, kam das Familienoberhaupt frei – um 25 Kilogramm abgemagert und am Ende seiner Kräfte. Die Berliner Familie, von den Nazis bis auf zehn Reichsmark beraubt, verließ Deutschland und ging in Neapel an Bord eines Ozeandampfers.

Der 13-jährige Sohn empfand die fünfwöchige Überfahrt nach China als Abenteuer. Anfangs staunte er, wie sich der Horizont hinter dem Blau und Grau des Meeres hob und senkte. »Ich war furchtbar neugierig auf alles.« Nur wenn die Eltern in jene nervöse Stille verfielen, die er seit Monaten bei ihnen beobachtete, trübte sich seine Stimmung. Irgendwann war auch ihm und der Schwester angst und bange, was wohl in Shanghai auf sie zukäme. China und das mit Nazi-Deutschland paktierende Japan standen im Krieg und Nippons Truppen besetzten immer weitere Teile des Reichs der Mitte.

Als das Schiff endlich vom Meer in die Jangtse-Mündung einfuhr und von dort in den Huangpu, erblickten die Blumenthals eine Schiffsparade: Frachter und Kriegsschiffe lagen vor Anker, dazwischen glitten Dschunken und Sampans durch den Fluss. Am Ufer erhoben sich Fabrikbauten, dann waren chinesische Wohnhäuser mit kunstvollen Holzdächern zu sehen, danach neoklassizistische Prunkbauten, die ausländischen Handelsfirmen, Banken und Versicherungen gehörten. Shanghai war damals eine geteilte Stadt: Der kleinere chinesische Teil befand sich in Händen Japans. Der große Rest der Stadt wurde wie seit Jahrzehnten von Frankreich, Großbritannien und den USA beherrscht, den größten unter den vielen Kolonialmächten, die sich in Shanghai breitgemacht hatten. Mehr als dreieinhalb Millionen Menschen lebten in der Stadt, ein Tummelplatz für Geschäftsleute und Glücksritter, aber auch letzte Zuflucht für gestrandete Juden wie die Blumenthals. Das Gros der Schanghailänder, wie sich die Neubewohner nannten, stammte aus Deutschland, Österreich und Polen.

An der Anlegestelle begrüßten Hilfskomitees die Ankömmlinge und brachten sie in Notunterkünfte. Viele Flüchtlinge bezeichnen Shanghai als Exil letzter Wahl: Gewalt aufgrund weitgehender Gesetzlosigkeit, Seuchen, dazu ein ungesundes Klima – und dennoch ein Segen, denn ab 1937 sahen sich jüdische Flüchtlinge fast überall vor geschlossenen Grenzen. Am Huangpu dagegen fragte niemand nach Visum, Vermögen oder Religion. Bis 1941 blieb die Stadt ein Hafen der Hoffnung: Horn’s Imbiss-Stube und Café Atlantic – bis vor wenigen Jahren zeugten Schriftzüge von den Geschäften, die Flüchtlinge im nördlichen Stadtbezirk Hongkou gegründet hatten, um sich über Wasser zu halten. Blumenthals Mutter nähte Kleidungsstücke und verkaufte sie, der Sohn reinigte Flaschen in einer Chemiefabrik, lieferte Brot und Salami aus – zu Fuß, ein Fahrrad konnte er sich nicht leisten.

Ende 1941 gewann Japan, Bündnispartner Nazi-Deutschlands, die Oberhand über ganz Shanghai. Auf Wunsch Deutschlands errichteten die Japaner ein Jahr später ein Ghetto: Am 18. Februar 1943 befahlen die Besatzer jüdischen Flüchtlingen binnen 90 Tagen in ein Viertel des nördlichen Stadtteils Hongkou zu ziehen. Von einer »Schutzmaßnahme« für Staatenlose, die Shanghai nach 1937 erreicht hatten, war in dem Befehl zu lesen – purer Hohn. Die Grenzen des Pferchs – Huimin Road, Tongbei Road, Zhoujiazui Road und Gongping Road – sind noch immer gut erkennbar. Von Mai 1943 bis August 1945 drängten sich auf diesen zweieinhalb Quadratkilometern Elend rund 20.000 Flüchtlinge und mehr als 10.000 Einheimische. Man verstand sich – als Schicksalsgemeinschaft.

Spuren erzählen von dieser Zeit: Im kleinen Huoshan Park im Südosten des früheren Ghettos erinnert ein Gedenkstein an die Gefangenen. Von dort ist es nicht weit zu Michael Blumenthals Zwangsunterkunft in der Zhoushan Road. Zweieinhalb der acht Shanghaier Jahre musste er dort verbringen: acht Zimmer, eine Toilette. »Wir waren vierzig bis fünfzig Bewohner«, erinnert sich Blumenthal. Wie die meisten Shanghailänder ist auch er zurückgekehrt an den Ort, der Zuflucht bedeutet und Schrecken. Ein silbernes Schild am Eingang erinnert an den einstigen Bewohner, der später zu Berühmtheit gelangen sollte: Blumenthal promovierte in Princeton, wurde Wirtschaftsprofessor und avancierte zum Finanzminister von US-Präsident Jimmy Carter.

Nach dem Besuch der Zhoushan Road wurde Blumenthal von einem Reporter gefragt, was er gerade empfinde. »Ich spüre, dass es ein sehr langer Weg war, dies hier hinter mir zu lassen«, entgegnete er. Gleich um die Ecke des Wohnhauses steht die Ohel-Moishe-Synagoge, mittlerweile in ein Museum umgewandelt, das die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge wachhält. Im Ghetto war sie Hort der Hoffnung. Es wurde viel gebetet, auch für die Inhaftierten der japanischen Polizeistation, die sich im Gebäude nebenan befand. Die Zellen waren berüchtigt: verseuchtes Trinkwasser, Ungeziefer, prügelnde Wärter. Rund 2.000 Juden überlebten das Ghetto nicht.

Michael Blumenthal hatte Glück. Einmal lag er 21 Tage lang mit Paratyphus im Ghetto-Hospital. Medikamente gab es keine, doch er war stärker als die Krankheit. Shanghai habe ihn gelehrt, auch in unübersichtlichen Situationen schnell einen Weg aus der Misere zu finden, erzählt er. 1944 hatte er seinen Job in der Chemiefabrik verloren, ohne Arbeit durfte er das Ghetto nicht mehr verlassen. Er half den Schwächeren und begann Esperanto zu lernen. »Ich war sicher, dass eine bessere Nachkriegswelt eine neutrale Sprache haben wird.« Es dauerte bis 1947, ehe sich diese bessere Welt für Blumenthal auftat: Nach acht Jahren Exil erhält er ein Visum für die Vereinigten Staaten und schifft sich nach San Francisco ein. Diese Fahrt über den Ozean bringt dem jungen Mann endlich wahre Freiheit.

Im Januar 2021 vollendete Michael Blumenthal das 95. Lebensjahr. Er feierte in Princeton, New Jersey, mit Frau, Sohn, drei Töchtern und vielen Enkelkindern. In Berlin trägt die Akademie des Jüdischen Museums seinen Namen, die sich für gesellschaftliche Vielfalt und Flüchtlinge einsetzt. Seine eigene Flucht aus Berlin liegt mehr als 80 Jahre zurück. »Shanghai war eine miserable Zeit«, sagt er, »aber, ich verdanke dieser Stadt mein Leben.«

Robert Zsolnay ist Autor und Journalist. Er arbeitet rund um den Globus und schreibt unter anderem für die Magazine mare und Spiegel Wissen. 

  • Gefördert vom:
  • im Rahmen des Bundesprogramm
  •  
  •