»Der Stillstand in der Flüchtlingspolitik wird auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen«

Ein Gespräch mit Ilse Junkermann und Jutta Weduwen: über die Aufnahme von Geflüchteten, die Rolle der Kirche und die Bedeutung des Themas für Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Ute Brenner: Im Jahr 2015 war der Begriff der Willkommenskultur in aller Munde, viele Menschen und Kirchengemeinden haben sich für die Aufnahme von Geflüchteten engagiert. Wie erleben Sie die politische und gesellschaftliche Situation diesbezüglich heute?

Ilse Junkermann: Die Entscheidung zu Grenzöffnungen und zur Aufnahme von gestrandeten Flüchtlingen im Jahr 2015 war, so mein Eindruck, von einem starken Barmherzigkeitsimpuls geleitet. Die große Not so vieler Menschen, die menschenunwürdigen Verhältnisse mitten in Europa, bewegte die Gewissen und die Herzen der Verantwortlichen, sie übernahmen dafür konkrete Verantwortung, auch im Sinne eines »Nein, dafür wollen wir nicht stehen, das widerspricht den Werten Europas im Kern«. Die herzlichen Szenen an den Bahnhöfen und die vielen Willkommensinitiativen, die vor Ort gegründet wurden, gaben dieser Entscheidung recht. »Wir schaffen das« – und wir hätten es schaffen können! Doch sehr schnell gewannen die politischen Angstmacher die Oberhand – und Angst verschließt die Herzen. Seitdem erlebe ich die gesellschaftliche und politische Situation als eine Art Stillstand. Denn es gelingt in Europa nicht, sich auf eine gemeinsame menschenwürdige Flüchtlingspolitik zu einigen, zu groß sind die Ängste vor der politischen Auseinandersetzung und dem Machtverlust im eigenen Land. Dieser »Stillstand« wird auf dem Rücken der Flüchtlinge an den Grenzen Europas ausgetragen, dieser »Stillstand« konterkariert die Werte, für die Europa steht. Selbst wiederholte Berichte und Bilder von den katastrophalen Zuständen in den Lagern haben eine nur geringe Wirkung; und auch die Angebote der vielen Städte, die sich zu »sicheren Häfen« erklärt haben, werden nicht als Teil einer menschenfreundlichen Politik aufgenommen, um aus der Sackgasse »Priorität hat eine gesamteuropäische Politik« zu kommen. Gut, dass die unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen, Gemeinden, Flüchtlingsinitiativen und Organisationen bis hin zur EKD beharrlich für Rettung in Seenot, für die Rechte von Flüchtlingen an den Grenzen Europas und für ein friedliches Zusammenleben vor Ort eintreten und Patenschaften übernehmen. Ich wünsche mir, die politisch Verantwortlichen würden mehr auf die Bürgerinnen und Bürger und ihr bürgerschaftliches Engagement für ein gerechtes Miteinander vertrauen! 2015 hat gezeigt, wie viele dazu bereit sind und bis heute in unzähligen Gruppen und Initiativen Integration und freundschaftliches Miteinander stärken.

Welche Erfahrungen haben Sie als Bischöfin gemacht, als Sie sich für die bessere Aufnahme und den Schutz von Geflüchteten eingesetzt haben?

Ilse Junkermann: Die Menschen in den Flüchtlingsinitiativen und -gruppen vor Ort waren sehr froh über die öffentlich-politische Unterstützung ihrer Arbeit »von oben«, darüber, dass ihre Arbeit gesehen und gewürdigt wurde und wird. Insbesondere für die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen und rechtsextremen Gegnern vor Ort und in der Öffentlichkeit wurden meine klaren öffentlichen Worte und Stellungnahmen sehr positiv aufgenommen und als Stärkung erfahren. Zugleich haben sie zu Wellen von Beschimpfungen im Internet geführt, zu Hass-Kommentaren und sexistischen Verunglimpfungen im Netz bis hin zu konkreten Bedrohungen. Das hat mir Angst gemacht – und mich zugleich darin bestärkt, Gesicht zu zeigen und mich nicht einschüchtern zu lassen. Besonders stärkend waren für alle Beteiligten öffentliche Aktionen mit vielen sehr unterschiedlichen Engagierten, wie die »Meile der Demokratie« in Magdeburg, die Friedensgebete in Tröglitz oder die Mahn-Andachten und Protestgänge gegen die Rechtsrockkonzerte in Themar.

Welche Initiativen und welches Engagement zeigt ASF zur Unterstützung von Geflüchteten?

Jutta Weduwen: Freiwillige von ASF sind in verschiedenen Ländern in der Unterstützung von Geflüchteten aktiv. So hilft zum Beispiel eine Freiwillige bei Asyl in der Kirche in Berlin; in den Niederlanden, in Großbritannien, der Ukraine, in Israel und in Belgien unterstützen Freiwillige Geflüchtete in einer Wohngemeinschaft sowie in Beratungs- und Unterstützungsprojekten. In fast allen sozialen Projekten gehören Geflüchtete zu den Zielgruppen, etwa in Frauenhäusern, Suppenküchen und Kleiderkammern. Darüber hinaus ist das Thema Flucht in der Begegnung mit vielen jüdischen Überlebenden präsent, zum Beispiel in der Begegnung mit Überlebenden der Kindertransporte in England oder bei Menschen, denen in den 1930ern die Flucht aus Deutschland oder anderen europäischen Ländern gelungen ist. Seit 20 Jahren gibt es den Arbeitsbereich »Geschichte(n) in der Migrationsgesellschaft« bei ASF. Darin bieten wir Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichten Bildungsprogramme an, bei denen es vor allem um die Beschäftigung mit der NS-Geschichte geht. Daran knüpfen sich Gespräche über die Geschichten der zugewanderten Menschen an, die viel zu wenig bekannt sind. In Publikationen erzählen wir diese Geschichten, die von Flucht und Migration geprägt sind. Zudem hat ASF Materialien für die Bildungsarbeit zum Themenfeld »Migration, Flucht, Asyl« herausgegeben.

Was kann und was sollte die Kirche tun, um Geflüchteten Schutz zu geben? Welche besondere Verantwortung hat die Kirche?

Ilse Junkermann: Kirche hat die besondere Verantwortung für das, was ihr anvertraut ist: das Evangelium von Gottes freier Gnade für alle Menschen und die Hoffnung auf Gottes kommendes Reich der Gerechtigkeit und des Friedens. Die Kirche lebt von und durch die Menschen, die – vom Evangelium angerührt und von solcher Hoffnung bestärkt – genau dafür jeweils an ihrem Ort eintreten und andere dafür werben. Dafür hat sie in der Regel an jedem Ort öffentliche Räume, die sie für Begegnungen und Diskussionen für Flüchtlingsinitiativen zur Verfügung stellen beziehungsweise diese dazu einladen kann. Eine besondere Verantwortung liegt auch darin, dass ihr, auch in minderheitskirchlichen Situationen, zugebilligt wird, dass sie ihre Stimme öffentlich laut werden lässt, weil »Nächstenliebe Klarheit verlangt«. Ihr wird auch zugebilligt, dass sie damit nicht um politische Macht konkurriert, sondern für Menschenrechte und -würde eintritt. Und schließlich kann sie deutliche Zeichen setzen, ja sogar mit konkretem Engagement wie etwa dem Rettungsschiff der EKD so lange anstelle des Staates (oder des Gemeinwesens) handeln, bis dieser beziehungswiese diese selbst seine beziehungsweise ihre Aufgabe wahrnimmt, der größten Not abhilft und zu politischen Lösungen findet, die diesen Namen verdienen. Dafür wird sie sich mit all jenen verbünden, die die gleichen Werte und Ziele verfolgen.

Wie versucht ASF auf politische, kirchliche und gesellschaftliche Debatten Einfluss zu nehmen?

Jutta Weduwen: ASF hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder für den Schutz und die Aufnahme von Geflüchteten eingesetzt und die besondere Verantwortung Deutschlands eingefordert, Menschen Asyl zu gewähren und das Recht auf Asyl nicht einzuschränken, wie es leider immer wieder passiert ist. Durch Kampagnen, Pressemitteilungen, Publikationen und Veranstaltungen stehen die Rechte und die Teilhabe von Menschen mit Fluchtgeschichten immer wieder im Mittelpunkt. Um einige zu nennen: Beim Kirchentag in Dresden initiierte ASF 2011 eine erfolgreiche Unterschriftenkampagne »Da wird Dein Herz auch bleiben «, die den Stopp von Abschiebungen von Rom*nja einforderte. In einer gemeinsamen Erklärung mit Gewerkschaften, Kirchen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen forderte ASF im September 2013 »Keine rassistischen Kampagnen gegen Flüchtlinge!«, sie fand auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung Erwähnung. Mit Buttons, Unterschriftenaktionen und Armbändern setzte ASF sich dann beim Kirchentag in Stuttgart 2015 unter dem Slogan »Wir sind viele – für das Recht zu kommen und zu bleiben« für den Schutz und die Aufnahme von Geflüchteten ein. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R) hat kürzlich einen Flyer herausgegeben, der die Mechanismen und das Ausmaß von Diskriminierung gegenüber Geflüchteten beschreibt. Diese Informationen richten sich an Kirchengemeinden und die interessierte Öffentlichkeit. Und last but not least dient genau dieses zeichen der wichtigen und notwendigen Beschäftigung mit dem Thema »Menschen auf der Flucht«.

Ilse Junkermann ist seit 2019 Leiterin der Forschungsstelle »Kirchliche Praxis in der DDR. Kirche (sein) in Diktatur und Minderheit « am Institut für Praktische Theologie in Leipzig. Davor war sie Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und Pfarrerin und Oberkirchenrätin in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Sie ist seit langem in der Friedens- und in der Asylarbeit engagiert. Seit Oktober 2020 ist Ilse Junkermann Vorstandsvorsitzende bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Jutta Weduwen ist Soziologin und seit 2012 ASF-Geschäftsführerin. Sie ist unter anderem Mitglied im Sprecher*innenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus sowie im Vorstand von XENION – psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte.

Ute Brenner, Historikerin und Redakteurin, ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. 

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