Ein Flüchtling erzählt seine
Geschichte.

Seit September arbeite ich für ASF in der „Cimade“ in Marseille mit Flüchtlingen. Die folgende Erzählung basiert auf den Erlebnissen eines Asylsuchenden, den ich betreue. Ich habe sie für ihn mit seiner Erlaubnis aufgeschrieben. Um ihn und seine Familie nicht zu gefährden, muss er anonym bleiben.

Flüchtlinge in Frankreich, obdachlos, arbeitslos und ohne Perspektive

© zoriah, Flickr/cc-Lizenz

Flüchtlinge in Frankreich, obdachlos, arbeitslos und ohne Perspektive

Meine Heimat liegt in einem kleinen Land in Mittelafrika. Meine Familie ist wirklich sehr groß. Da gibt es meinen Vater, seine zwei Frauen und insgesamt 17 Geschwister. 2006 war ich mit der Schule fertig. Gleich darauf bekam meine Frau ein Baby. Um meine Familie zu ernähren, begann ich als Taxifahrer zu arbeiten. Doch das Geld reichte nicht aus, um uns ein gutes Leben zu ermöglichen. Als die US-Armee, die in meinem Land stationiert war, Sicherheitsleute suchte, sah ich meine Chance auf ein besseres Leben gekommen. Ich hatte Glück und bekam den Job. Die langen Arbeitszeiten waren hart. Manchmal stand ich zwölf Stunden pro Tag Wache, hatte kaum Kontakt zu meiner Familie und lebte in permanenter Angst. Bomben explodierten und viele Menschen starben. Nach 14 Monaten verlängerte ich meinen Vertrag nicht, ich wollte zurück zu meiner Familie. Die Distanz und Trennung waren für mich so unglaublich schwer, dass ich es keinen Tag länger aushielt.

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© Zoriah, Flickr/cc-Lizenz

Flüchtlinge in Frankreich

Gefangen

Von meinem gesparten Lohn baute ich ein Haus und eröffnete sogar einen Laden. Ich verkaufte Schuhe, Kleidung und Grundnahrungsmittel. Die Nähe zur Landesgrenze brachte Handelsleute
zu mir, sodass mein Geschäft gut lief. Eines Abends, als ich meinen Laden gerade schließen wollte,
überraschten mich zwei Männer. Sie hielten mir eine Pistole in den Nacken, zwangen mich in ihr Auto und verbanden mir die Augen. Ich hatte Angst, wusste nicht, wo sie mich hinfuhren
und was sie mit mir vorhatten. Sie schlugen mich mit dem Kolben der Waffe, traten und beleidigten mich.

Irgendwann hielten wir an. Sie nahmen mir die Augenbinde ab und gaben mir einen sehr schweren Rucksack. Sie erklärten mir, dass ich mit ihnen mitgehen müsse. Ich flehte sie an, mich laufen zu lassen und bot ihnen Geld. Doch sie schlugen mich und sagten mir, dass sie kein Geld von mir wollten, sondern mich. Fünf Nächte lang liefen wir. Tagsüber versteckten wir uns, um nicht gesehen zu werden. Dann kamen wir in einem Lager an, ein General empfing mich. Ich befand mich im Lager einer Guerilla-Truppe. Der General erklärte mir, dass ich jetzt zu ihnen gehöre und mit ihnen kämpfen müsse. Die Bedingungen im Lager waren schrecklich, überall herrschte Gewalt. Ich konnte mich nicht waschen, das Essen war schlecht. Insgesamt lebten 40 Rebellen in dem Lager. Auf Schritt und Tritt wurde ich überwacht. Insgesamt behandelten sie mich verhältnismäßig gut, denn ich war sehr wertvoll für sie. Die Rebellen erhofften sich, dass ich ihnen mehr über die Kampfweise der US-Armee erzählen könnte. Da ich gut Englisch spreche, planten sie, mich als Übersetzer einzusetzen.

Flucht und Tod

Nach einer Woche bauten sie das Lager wieder ab. Wir marschierten weiter, wurden jedoch nach ein paar Kilometern angegriffen. Überall schlugen Kugeln ein, die Rebellen schossen zurück. In der allgemeinen Verwirrung gelang es mir zu fliehen. Einige der Rebellen sahen mich wegrennen und schossen, doch ich hatte Glück und kam unverletzt davon. Nach zwei Wochen erreichte ich endlich mein Zuhause. Jedoch waren die Rebellen schneller gewesen: Einen Cousin hatten sie ermordet und meinem Vater die Hüfte zertrümmert, sodass er nicht mehr laufen kann. Ich solle das Land so schnell wie möglich verlassen, riet mir meine Familie. Ich nahm meine gesamten Ersparnisse und setzte mich in das nächste Flugzeug nach Frankreich. Meine Familie, meine Frau und mein Kind musste ich zurücklassen. Warum floh ich nach Frankreich? In ein Nachbarland konnte ich nicht, denn die Rebellen kennen keine Landesgrenzen. Sie hätten mich überall aufspüren können, also musste ich weiter weg. Weil ich für mein Schuhgeschäft schon einige Male in Frankreich auf Dienstreise war, kam mir das Land als erstes in den Sinn. Wer auf der Flucht ist, überlegt sich nicht, welches Land das beste für ihn ist. Ich habe die erste Gelegenheit ergriffen, mich in Sicherheit zu bringen.

Allein in Frankreich

Alles ist sehr schwierig für mich in Frankreich. Ich bin hier allein, kann mit niemanden reden, weil ich noch kein Wort Französisch spreche. Die unglaubliche Distanz zu meiner Familie ist schrecklich. Auch dieses Asyl-System belastet mich sehr, weil es mir immer wieder zeigt, dass ich nicht willkommen bin. Mit nur 330 Euro Unterstützung im Monat muss ich meine Unterkunft, meine Verpflegung und die öffentlichen Transportmittel bezahlen. Das ist unmöglich. Hinzu kommt die psychische Belastung. Jedes Mal, wenn ich meine Familie nicht erreichen kann, weiß ich nicht, ob die Verbindung aus technischen Gründen unterbrochen ist oder ob meine Lieben in Gefahr sind.

Aber ich mache auch gute Erfahrungen hier in Frankreich. Es gibt Menschen und Organisationen, die mich ernst nehmen und sich für mich interessieren. Ein Arzt hilft mir kostenlos bei der Bewältigung meiner Erlebnisse. Organisationen wie die „Cimade“, das „Rote Kreuz“ oder „Médecins du Monde“ engagieren sich sehr für mich. Über sie habe ich auch Freunde aus meiner Heimatregion gefunden. Trotzdem können sich diese Organisationen nur begrenzt um mich kümmern. Wenn ich beispielsweise morgens in die Flüchtlingsorganisation „Cimade“ komme, können die Mitarbeiter mir nur meine Post geben, für Gespräche ist keine Zeit. Ich kann ihnen nicht erzählen, was mich aktuell beschäftigt, was mich glücklich macht und was mich sorgt. Es ist auch sehr schwer für mich, den Mitarbeitern für den Asylantrag alles über mich, meine Ängste und Verletzungen zu erzählen. Es ist komisch, jemandem so viel zu erzählen, ohne etwas zurückerzählt zu bekommen. Ohne überhaupt die Zeit zu haben, sich kennen zu lernen. Manchmal finden sie jedoch einen Moment, über einem Kaffee ein wenig zu plaudern. Diese Momente des Austauschs fernab von Asylfragen und meiner Fluchtgeschichte sind mir sehr wichtig.

Aufgeschrieben von: Lennart Perkowski, Jahrgang 1993, ist ASF-Freiwilliger bei der Flüchtlingsorganisation „Cimade“ in Marseille.

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