„Wir brauchen keine Toleranz, die nur erduldet“

In den vergangenen Monaten gab es antisemitische Angriffe und Anfeindungen in Berlin. Der Fall eines 53-jährigen Rabbiners, der vor den Augen seiner Tochter von Jugendlichen geschlagen wurde, löste bundesweit Entsetzen aus. Auch Stephan J. Kramer, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, wurde Opfer eines antisemitisch motivierten Übergriffes.

Stefan J. Kramer

Stefan J. Kramer

1. In den letzten Monaten kam es zu antisemitischen Übergriffen und auch immer wieder Anfeindungen. Wie gehen die Jüdische Gemeinde und der Zentralrat damit um?

Die Vorfälle sind nicht spurlos an uns vorübergegangen, weder an den Opfern noch an den jüdischen Institutionen. Wir müssen darüber nachdenken, was wir tun können, um die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, die auch als solche erkennbar sind, vor möglichen Übergriffen zu schützen. Rabbiner Alter und ich werden von Mitgliedern der Gemeinde angesprochen. Menschen teilen uns ihre Bestürzung mit, wollen wissen, was genau wie passiert ist und wie wir damit umgehen. Im größeren Rahmen sorgen uns diese Angriffe vor dem Hintergrund einer Normalitätsdebatte in Deutschland.

2. Gibt es sogenannte „No-Go-Areas“ für Juden in Berlin oder in Deutschland?

Wie in jeder Metropole gibt es auch in Berlin Orte, an die man zu bestimmter Zeit als nach außen hin erkennbarer Jude, besser nicht gehen sollte. Es war nicht einfach für mich, diese Realität für das tolerante und multikulturelle Berlin anzuerkennen. Aber das gilt nicht nur für Juden. Auch für Angehörige anderer Minderheiten ist es nicht unbedingt einfacher. Auch Muslima, die ein Kopftuch oder Muslime, die einen Bart tragen, sind ähnlichen Angriffen und Pöbeleien ausgesetzt.

3. Angesichts der Angriffe, aber auch der Art, wie die Beschneidungsdebatte geführt wird: Wie steht es um die Toleranz in Deutschland?

Die Gewaltbereitschaft und die Aggressivität innerhalb der Gesellschaft haben zugenommen. Im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte mussten wir feststellen, dass sehr aggressiv gestritten wird. Das hat nichts mehr mit einer sachlichen Debatte zu tun. Die meisten der Zuschriften, die der Zentralrat in diesem Zusammenhang bekommt, sind Hasstiraden. Dabei will ich diese wichtige Debatte an sich nicht abwürgen. Es gibt auch viele Diskutanten, die ernsthaft und respektvoll die Frage nach dem Wohl des Kindes und der körperlichen Unversehrtheit mit den Rechten einer Religionsgemeinschaft abwägen. Doch überwiegend haben wir es mit Menschen zu tun, die unter dem Deckmantel des vermeintlichen Engagements für das Kindeswohl oder für den Nahen Osten ihre antisemitischen Vorurteile pflegen und verbreiten wollen.

4. Waren sie von diesen heftigen Reaktionen überrascht?

Bestürzt bin ich darüber, dass diese Form der Auseinandersetzung – unsachlich und antisemitisch – in der Tat in der Mehrheitsgesellschaft eine solche Resonanz findet. Das hat mich zwar nicht desillusioniert, weil ich bei diesem Thema sowieso keine Illusionen mehr habe. Aber es hat mich doch überrascht, dass es in der Magnitude so hochgegangen ist. Ich glaube auch nicht, dass es schon vorbei ist.

5. Hatten Sie das Gefühl, dass nach den Übergriffen auf den Rabbiner die Schuld vor allem unter den Muslimen in Deutschland gesucht wurde?

Die ersten Anfragen – auch von Journalisten –, die bei mir nach dem Angriff auf meine Person eingingen, erkundigten sich, ob der Täter ganz bestimmt kein Moslem gewesen sei. Nein, er war es nicht. Nach dem, was ich gesehen und gehört habe, war es ein Gen-Deutscher. Das Schöne in dieser bestürzenden Situation aber war, dass mich eine Passantin mit wahrscheinlich türkischen Wurzeln tatkräftig unterstützte und fast schon verteidigte. Es war überhaupt nicht die Frage, ob ich ein Jude bin und sie vielleicht aus einem anderen Kulturkreis kommt. Nein, da standen ein paar Leute an einer Würstchenbude zusammen und haben mir unter Einsatz ihres eigenen Lebens geholfen. So muss es sein. Diese ewige Frage, war er Moslem, war er Deutscher, war er Jude oder Christ, die sollte eigentlich überhaupt keine Rolle spielen.

6. Was erhoffen Sie sich von zivilgesellschaftlichen Partnern wie ASF?

Im Fall der Beschneidungsdebatte müssen wir respektvolle Diskussionen einfordern. Jenen, die diese Diskussion missbrauchen um Vorurteile und Antisemitismus auszuleben, muss klar gemacht werden, dass das nicht toleriert wird, dass so etwas in unserer Gesellschaft einfach nicht geht. Nach den Übergriffen tat es gut, Solidarität zu spüren. Das hat nicht nur den Opfern gut getan, sondern auch all jenen, die Angst davor haben, ebenfalls betroffen sein zu können.

7. Was soll konkret geschehen?

Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, nur zu reagieren. Wenn so etwas passiert, dann ist das zu bedauern. Wir müssen aber noch konsequenter Menschenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft bekämpfen. Dazu gehört die langfristige Finanzierung jener Grassroots-Organisationen, etwa Opferberatungsstellen, die vor Ort die wirkliche Arbeit leisten. Dazu gehören neue Impulse in der Bildung. Wir müssen uns fragen, wie wir unseren Jüngsten beibringen können, dass Gewalt keine Alternative ist, auch wenn die persönliche Lebensperspektive gerade nicht die beste ist. Wie können wir denjenigen Menschen Hoffnungen geben, die in sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Schwierigkeiten stecken, aber eben nicht gewalttätig und extremistisch werden. Wie erinnern wir die Politiker daran, dass es ihre höchste Pflicht ist, dafür zu sorgen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die vom gegenseitigen Respekt geprägt ist? Wir brauchen keine Toleranz, die nur erduldet, sondern eine, die im alltäglichen Leben umgesetzt wird. Vielen Dank für das Gespräch.

Interview mit: Stephan J. Kramer, Jahrgang 1968, Jurist und Volkswirt, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Interview: Karl Grünberg, Journalist und Historiker, freier Mitarbeiter im Öffentlichkeitsreferat von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

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