Auf den Spuren eines ukrainischen Widerstandskämpfers

Ein Freiwilligendienst in den Gedenkstätten Brandenburg

© Ruthe Zuntz

Ich komme aus Kyiv und leiste meinen Freiwilligendienst im Internationalen Freiwilligenprogramm in Deutschland seit Januar 2021 in den Gedenkstätten Brandenburg an der Havel. Die Gedenkstätten erinnern zum einen an die Opfer der Euthanasie-Morde, zum anderen an die Geschichte des ehemaligen Zuchthauses Brandenburg-Görden, in dem zwischen 1940 und 1945 zahlreiche NS-Widerstandskämpfer*innen aus ganz Europa inhaftiert und hingerichtet wurden. Ich bin an den inklusiven Führungen in der Euthanasie-Ausstellung beteiligt und recherchiere zu den damaligen ausländischen Zuchthausinsass*innen. Daneben betreue ich die Social-Media-Seiten der Gedenkstätten und schreibe Artikel für den Freiwilligen-Blog.

Für die Gedenkstätten recherchiere ich über die Gruppe der ausländischen Zwangsarbeiter*innen, die der deutschen Widerstandsgruppe »Europäische Union« angehörten. Ein Mitglied dieser Gruppe, ein Mann, der später im Zuchthaus Brandenburg inhaftiert war, stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Kyiv. Während meines Weihnachtsbesuchs zu Hause beschloss ich, ihm auf die Spur zu kommen und Verwandte von ihm zu finden.

Einige Zeit später kam ich in dem Dorf an. Ich habe dort die Vorsitzende des Dorfrates und auch die Bibliothekarin kennengelernt. Am Ende des Tages stellte sich heraus, dass erstens niemand im Dorf etwas über die Tätigkeit dieses Mannes in Deutschland gewusst hat. Zweitens, dass die Vorsitzende sogar eine entfernte Verwandte von ihm war und ich von ihr die Telefonnummer der Tochter des Zuchthaus-Überlebenden bekommen habe. Und drittens hat mir die Bibliothekarin eine unglaubliche Geschichte von ihrem Vater erzählt, der zuerst aus dem KZ Auschwitz geflohen war und danach nach Buchenwald gebracht wurde. Sie fand es sehr berührend, dass sich jemand für solche Lebensgeschichten interessiert und hat während der Geschichte geweint. Ich war zutiefst erschüttert.

Wie viele solcher Geschichten haben wir noch nicht gehört, wie viele Geschichten werden wir nie hören, wie viele Geschichten bleiben »unter dem Teppich« – aus Angst (Menschen aus der Sowjetunion, die Zwangsarbeit in Deutschland leisteten, mussten es danach verschweigen, um die eigene Familie zu schützen) oder Gleichgültigkeit (Teenager legen keinen Wert auf die Geschichte des eigenen Dorfes)?

Wie ich mitbekommen habe, fehlt es in den Gedenkstätten insgesamt an Zeit und Kapazitäten, um eigene Forschungen durchzuführen. Deswegen würde ich mir von ganzem Herzen wünschen, dass zukünftige Freiwillige dieses Versäumnis nachholen können. Der Beitrag der Freiwilligen kann darin bestehen, dass sie verschiedene Erzählungen sammeln, die Licht auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges werfen, dass sie Zeitzeug*innen aussuchen, die gerne über ihre Erfahrungen berichten wollen, und dass sie historische Dokumente übersetzen, damit wir weiter die manipulativen historischpolitischen Stereotype über den Zweiten Weltkrieg aufbrechen und die Geschichte des 20. Jahrhunderts (re)analysieren können.

Daria Yemtsova aus Kyiv ist ASF-Freiwillige im Internationalen Freiwilligenprogramm in Deutschland und leistet seit Januar 2021 ihren Freiwilligendienst in der Gedenkstätte Zuchthaus Brandenburg-Görden und der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde. Diesen Text hat Daria im Januar 2022 geschrieben, also vor Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine.  

 

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