Durch die Augen anderer Neues sehen – und das Eigene neu entdecken

25 Jahre Internationales Freiwilligenprogramm in Deutschland

© Iris Groschek

»Besonders gut hat mir der Workshop über Erinnerungen in verschiedenen Ländern gefallen, da ich beobachten konnte, wie unsere Perspektiven davon abhängen, woher wir kommen, und dass es durchaus möglich ist, andere Perspektiven zu sehen, solange wir offen für Kommunikation sind.«
Irem Nur Yildiz aus der Türkei, Freiwilligendienst 2016/17 bei Asyl in der Kirche/Jüdische Gemeinde in Berlin

Andere Perspektiven zu sehen und zu ermöglichen und sich so der Komplexität von Geschichte, Erinnerung und Realität anzunähern – das versucht das Internationale Freiwilligenprogramm in Deutschland seit 25 Jahren.

Jährlich kommt eine Gruppe von 15 bis 18 Menschen aus verschiedenen Ländern nach Deutschland, um hier ihren einjährigen Friedensdienst zu leisten. In den vier Seminaren, die im Laufe des Freiwilligendienstes stattfinden, versucht ASF, die Freiwilligen miteinander ins Gespräch zu bringen. Sie setzen sich reflexiv mit ihrer Herkunft auseinander, und sie tun dies im Austausch mit ihren Mitfreiwilligen, die aus unterschiedlichen Ländern kommen.

So erzählen sie einander, welche Narrative im Blick auf das 20. Jahrhundert in ihrem Land bestimmend sind. Und sie gewähren einander einen Einblick in das, was in ihrer Familie wichtige Ereignisse des 20. Jahrhunderts waren und wie innerfamiliär wie auch innerhalb ihrer Herkunftsgesellschaft darüber gesprochen oder auch geschwiegen wird.

Durch die Heterogenität der Gruppe können dabei ganz andere Perspektiven als die eigene nachvollzogen werden. Dabei ist es nicht immer leicht, die Gegensätze konkurrierender Deutungen auszuhalten. Verschiedenheit kann irritieren oder gar schmerzen.

»Ein Freiwilliger hat eine Präsentation über den Zweiten Weltkrieg (im Bezug auf die Sowjetunion) vorbereitet. Das war eine total russische Perspektive – nicht total falsch aber auch nicht richtig, aber normal und gewöhnlich für uns – und furchtbar für andere. Das war am kompliziertesten für mich zu lernen: Normal zu reagieren, dass andere Leute anderes ›Wissen‹ haben können. Das habe ich noch nicht bis zum Ende geschafft, aber habe noch ein bisschen Zeit zu üben.«
Vera Khorosheva aus Russland, Freiwilligendienst 2011/12 in der Gedenkstätte Augustaschacht

Erzählt werden Geschichten von Flucht und von Hunger, von Vertreibung und Gewalt, von Zwangsarbeit und vom Schweigen, von Heldentum und Kollaboration.

Erzählt wird von Gesellschaften, die sich über ihre Siegerrolle oder über ihre Opferschaft definieren. Erzählt wird, wie vor dem Hintergrund dieser Deutungskontexte die Erfahrung der Familien unserer Freiwilligen diese Wertvorstellungen verstärken oder gerade auch andere Motive betonen.

Ukrainische Freiwillige beklagen, wiederholt russisch gelesen zu werden, und erklären, wie sie das verletzt und welche Mechanismen es bei ihnen auslöst. Als deutlich wird, wie schmerzlich dies wiederum für die russischen Mitfreiwilligen ist, betonen sie, dass sie bei ASF das erste Mal Freundschaft mit russischen Menschen geschlossen haben. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fordert diese Freundschaften allerdings extrem heraus.

Eine israelische Freiwillige, deren Familie aus Äthiopien stammt und die ihre Minderheitensituation in Israel deutlich empfindet, spricht mit einer Freiwilligen aus Rumänien, deren Familie dort zur deutschen Minderheit gehört. Im Blick auf die Mehrheitsgesellschaft haben die beiden Familien unterschiedliche Strategien verfolgt – hier Anpassung, da Bewahrung der Eigenständigkeit. Die beiden tauschen ihre persönlichen Erfahrungen darüber aus und hinterfragen sich und ihre Familien respektvoll.

»Unsere Seminartage wurden durch den Austausch über unsere Geschichten und die «große Geschichte» verbunden. Ich erkannte, dass jede unserer Geschichten von der großen Geschichte geprägt war. Ich dachte mir auch, dass man sich die Geschichte mit mehreren Stimmen erzählen muss, um ihre Komplexität zu verstehen.«
Lucie Belabdi aus Frankreich, Freiwilligendienst 2019/20 im Diakoniewerk Simeon

Um diese Veränderung der Sicht geht es: andere Perspektiven nachzuvollziehen und dadurch auch die eigene Perspektive zu reflektieren.

»Vor meinem Dienst mit ASF hatte ich nie gedacht, dass Länder unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte haben könnten. Es ist mir dieses Jahr bewusst geworden.«
Sarah Zwingelstein aus Frankreich, Freiwilligendienst 2018/19 im ASF-Sommerlagerbüro und in der Jüdischen Gemeinde Berlin

Diese Reflexion über die eigene Herkunft gepaart mit der Offenheit, den Blickwinkel anderer Personen einzunehmen, ermöglicht es, auch die eigene Position neu zu sehen und zu bewerten.

»Die Realität, in der ich aufgewachsen bin, basierte auf der Vorstellung von festen Narrativen. Texte zu lesen und viele Gespräche zu führen, haben mir ein besseres Verständnis meiner eigenen Narrative und des Ortes, aus dem ich komme, vermittelt.«
Tamer Said aus Israel, Freiwilligendienst 2018/19 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und bei der Solidarischen Hilfe im Alter Hamburg

Aus den verschiedenen Perspektivwechseln kann Multiperspektivität entstehen. Sie einzuüben ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Lernprozess. Im Internationalen Freiwilligenprogramm in Deutschland ist sie gleichzeitig ein sozialer Prozess, der aus Begegnungen genährt wird. Das neu entstehende, collagenartige Bild ist komplex, vielschichtig und reicht über den Freiwilligendienst hinaus.

Vor 25 Jahren begann ASF dieses Programm als Pilotprojekt. Im Oktober 1993 stellten Brigit Scheiger, Joachim Rasch und Regine Schröer unter dem Titel »Brücken in Europa« ein Konzept vor, Freiwillige aus den ASF-Partnerländern einzuladen. Impulse dafür waren unter anderem einerseits die Erfahrungen der internationalen Begegnungen in den Sommerlagern, andererseits auch Anfragen von Partner*innen aus dem Ausland, jungen Menschen die Erfahrungen eines Freiwilligendienstes in Deutschland zu ermöglichen.

»Sühnezeichen« als Überschrift für den Dienst ausländischer Freiwilliger in Deutschland – dies bewirkte jedoch nicht nur Zustimmung, sondern auch Abwehr. Würde ein internationales Programm und die Aufnahme von Freiwilligen aus unseren Partnerländern dem Gründungsaufruf nicht entgegenstehen, den Unterschied zwischen Tätern und Opfern verwischen? Sollte damit gar der Streichung des Sühnegedankens der Weg bereitet werden?

Die Befürworter*innen des Programmes sahen es hingegen gerade als Folge des Gründungsaufrufes: Außer Frage stehe die Unterscheidung in Deutsche und in »Völker, die Gewalt von uns erlitten haben«. Allerdings seien zwischen Deutschen und den vom NS-Terror betroffenen Völkern neue Verbindungen gewachsen. Dieser Entwicklung und dem Wunsch der Partnerorganisationen wollte ASF mit dem Einladungsprogramm Rechnung tragen.

Im August 1996 begann eine französische Freiwillige im Rahmen dieses Pilotprojektes ihren Dienst an der Gedenkstätte Buchenwald. Im September 1997 gehörten bereits fünf ausländische und drei deutsche Freiwillige zur ersten Gruppe des »Einladungsprogramms«. Das Pilotprojekt entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem stabilen Programm, dem »Internationalen Freiwilligenprogramm in Deutschland«.

Was lässt sich nach 25 Jahren zu den ursprünglichen Befürchtungen und Hoffnungen sagen?

Unter dem Namen Sühnezeichen entsteht jedes Jahr im Internationalen Freiwilligenprogramm in Deutschland etwas Besonderes: Auf der Grundlage, dass ASF für eine klare Haltung zur deutschen Schuld steht, wird ein geschützter Raum für Annäherung ermöglicht: Oft ist es ein wichtiger Teil der Motivation für Teilnehmende, sich gerade in diesem Raum mit Deutschland und mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen zu können. Diesen Weg in einer internationalen Gruppe gehen zu können, ist eine wichtige Unterstützung.

Anne Katrin Scheffbuch, evangelische Theologin, ist seit 2013 Koordinatorin des Internationalen Freiwilligenprogramms in Deutschland bei ASF.

 

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