© Thomas Heldt
Von verschiedenen Seiten wird die Erinnerung an die NS-Verbrechen heute in Frage gestellt, neuerdings auch von Teilen einer Bewegung für ein postkoloniales Erinnern. Im Folgenden werden Elemente für eine differenzierende Rassismusund Antisemitismuskritik skizziert, um über das Verhältnis von postkolonialer und postnationalsozialistischer Geschichtsreflexion nachzudenken, ohne erinnerungspolitische Revisionen vorzunehmen.
Verbunden und getrennt – Rassismus- und Antisemitismuskritik
Das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus gehört zu den großen politischen Themen der Gegenwart. Der Umgang mit den beiden großen Gewaltgeschichten der Moderne steht zur Diskussion. Mit Kolonialismus und Holocaust geht es um die »zwei großen moralischen Narrative des 20. Jahrhunderts«.[1] Aus beiden wird abgeleitet, wer und was heute als antisemitisch beziehungsweise als rassistisch zu gelten hat. Natan Sznaider ordnet dies historisch ein: »Der Zionismus war die politische Antwort auf den Antisemitismus, so wie der Postkolonialismus eine Antwort auf den Rassismus war«.[2] Beide Antworten enthalten emanzipatorische und nationalistische Elemente, die herauszuarbeiten sind, um den identitären Tendenzen in beiden entgegenzuwirken. Notwendig ist dafür ein Denken, das sich von reinen Positionen verabschiedet und innere Widersprüchlichkeiten anerkennt. Es geht also um ein globales Bildungsprojekt. Die gegenwärtig verbreitete Reserviertheit gegenüber der Demokratie und ihren Medien, wie sie in rechtspopulistischen Bewegungen geäußert wird, die sich als ›das Volk‹ repräsentieren, basiert auf einer Selbststilisierung als Opfer einer übermächtigen Instanz, die ›Wahrheiten‹ unterdrückt. Dabei ist die Selbstbezeichnung als ›Volk‹ nationalistisch repräsentiert – und sie ist in der deutschen Geschichte im Herbst 1989 nur ganz kurz eine basisdemokratische Selbstbezeichnung gewesen, bevor sie sehr schnell wieder als nationale Gemeinschaft beansprucht worden ist.
Die phantasmatische Figur des Juden nimmt im antisemitischen Denken weder den Ort des Wir noch den des Anderen ein, sondern gilt als ominöser, ungreifbarer Feind jeder Ordnung, als »Weltfeind« und nicht als »›normale‹ Nation, Rasse oder Religion«.[3] Antisemitismus macht das »Gerücht über die Juden«[4] zu einem gängigen Erklärungsmuster für gesellschaftliche Probleme und bietet ein Weltbild an, das einfach in Gut und Böse einteilt sowie jegliche Komplexität ausschließt. Das Grundmuster der antisemitischen Ideologie fasst Zygmunt Bauman als Abwehr jeder Ambivalenz[5], ein Ausdruck der Unerträglichkeit jeder Unübersichtlichkeit und Uneindeutigkeit, die in den Juden repräsentiert erscheinen. Der Rassismus strebt eine ethnopluralistische Teilung der Welt an, der Antisemitismus die Vernichtung des Anderen, um sich von den Zumutungen einer komplexen Welt zu befreien. Im Antisemitismus nach der Shoah fusionieren mehrere tradierte Ressentiments, die sich aus christlich-religiösen, völkisch-rassistischen, schuldabwehrenden und antiisraelischen Elementen zu einem Weltbild zusammensetzen. Davon sind auch linke, herrschaftskritische Bewegungen nicht frei, wenn sie sich pauschal gegen ›den Westen‹ wenden und dabei selbst ethnisierend argumentieren. Immer dort, wo mit Identitäten statt mit gesellschaftlichen Verhältnissen argumentiert wird, ist eine von der kritischen Theorie inspirierte Antisemitismuskritik herausgefordert. Dies kann auch der Fall sein, wenn es um antikoloniale oder antirassistische Positionen geht.
Postkoloniale und postnationalsozialistische Geschichtsreflexion
Wie ein gleichberechtigtes Erinnern an die Geschichte des Rassismus und jene des Antisemitismus in der Öffentlichkeit stattfinden kann, ist heute hoch umstritten und untrennbar mit den Verhältnisbestimmungen zu Kolonialismus und Nationalsozialismus verbunden. Thematisierungen der epistemischen und materiellen Ordnungen des Kolonialismus erfolgen in einem sozialen und kulturellen Kontext, der von den Folgen der NS-Verbrechen geprägt ist und in dem die ideologischen Muster und gesellschaftlichen Selbstbilder nachwirken, die im Nationalsozialismus herausgebildet worden sind. Es ist diese Einsicht in die Unabgeschlossenheit der nationalsozialistischen Überzeugungen von Kultur und Gesellschaft, von der ausgehend die Frage nach dem Ort eines postkolonialen Gedächtnisses in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft gestellt werden kann. Die postkoloniale Gegenwart nach Auschwitz zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen- und Weltbilder des Nationalsozialismus in ihr zwar politisch-programmatisch nicht mehr vertreten werden, jedoch in kollektiv geteilten Denkmustern nach wie vor vorhanden sind. Umgekehrt zeigt sich die postnationalsozialistische Gegenwart als eine, in der die Erfahrung kolonialer Herrschaftspraktiken und die darin erzeugten Bilder von den nicht-europäischen Anderen und dem europäischen Selbst verankert sind. Diese doppelte Perspektive gilt es einzunehmen bei dem Versuch, Bildungsprozesse in einer Gegenwart zeitgeschichtlicher Beziehungen zu reflektieren und dabei sowohl Zusammenhänge wie auch Unterscheidungslinien zu vermitteln.[6] Das verlangt, ein hohes Maß an Komplexität anzuerkennen und in Konstellationen des Gleichzeitigen zu denken. Die Vorstellung eines gesellschaftlich etablierten Konsenses gegen Antisemitismus im Kontrast zur Vernachlässigung des Rassismus stellt die Auseinandersetzung mit beiden Ideologien in ein Konkurrenzverhältnis. Um das zu vermeiden, sollten sich Antisemitismus- und Rassismuskritik auf den gemeinsamen Gegner, nämlich den reaktivierten Nationalismus in Deutschland und Europa konzentrieren. Stattdessen scheint sich ein »Historikerstreit 2.0«[7] abzuzeichnen. Mit dem Vorläufer von Mitte der 1980er Jahre hat dieser die Tendenzen zur Relativierung des Holocaust gemeinsam. Steffen Klävers sieht die Parallelen zum Historikerstreit der 1980er Jahre, wenn mit postkolonialer Theorie versucht wird, Auschwitz normalisierend zu historisieren, indem die Shoah »funktionalistisch sowie strukturell analysiert und totalitarismustheoretisch als Beispiel für einen genuin modernen Genozid beschrieben (wird, A. M.), in dessen Tradition auch ein Kolonialgenozid fallen würde«.[8] Dabei wird der spezifische NS-Antisemitismus nicht angesprochen, es ist unterschiedslos von »rassistischer Gewalt«[9] die Rede. Dass das Judentum im NS-Antisemitismus nicht ein koloniales Anderes darstellt, sondern von dieser Differenzlogik überhaupt nicht erfasst werden kann, bleibt ausgespart, wenn der NS als koloniales Projekt oder als Antwort auf den Kolonialismus aufgefasst wird. Der völkische Antisemitismus projiziert alles Jüdische als Verunreinigung der nationalen Gemeinschaft und als Bedrohung ihrer Moral. Der nationalistische Kolonialrassismus des deutschen Kaiserreichs ist davon zu unterscheiden. Die Denkmuster des Kolonialismus folgen der Idee europäischer Überlegenheit über die nicht-europäischen und vor allem nicht-weißen Bevölkerungen. Diese galt es zu beherrschen und auszubeuten. Eine unüberwindliche Kluft zwischen den Kolonisierenden und den Kolonisierten wird in dieser Kolonialherrschaftsform vorausgesetzt und hergestellt. Begründet wird diese Kluft mit den zivilisatorischen Defiziten der Kolonisierten, die entsprechend abwertend bezeichnet werden. Auf der Grundlage dieser kontrastierenden Vorstellungen schuf sich die deutsche Kolonialmacht die mentalen Voraussetzungen für die Entgrenzung von Gewalt. Es bildete sich eine Herrschaftspraxis und -ideologie heraus, die auf die Vernichtung der Bewohner*innen des kolonisierten Territoriums zielte und die insbesondere im deutschen Kolonialkrieg in Südwestafrika zur Anwendung kam, bei dem die Zielsetzung des »Rassenkampfes« offen verfolgt wurde.[10]
Historische Rekonstruktion statt erinnerungspolitischer Revision
Es lohnt sich, beide Komplexe von Gewaltgeschichte unterscheidend zu rekonstruieren, um den spezifischen kolonialen Rassismus und den spezifischen nationalsozialistischen Antisemitismus herauszuarbeiten und zu vermitteln. Dagegen halte ich einen Ansatz, der ein postkoloniales Gedächtnis für eine erinnerungspolitische Relativierung des Holocaust einsetzt, aus mehreren Gründen für unangebracht: Bedient wird dadurch ein in Teilen der deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhandenes Ressentiment gegen die Erinnerung an den Holocaust, indem die damit verbundenen Konzepte, Institutionen und Gedenkpraktiken als dominant repräsentiert werden. Ausgeschlossen wird dadurch die Verbundenheit von Rassismusund Antisemitismuskritik in der migrationsgesellschaftlichen Gegenwart, wie sie sich gerade in vielen Bildungsinstitutionen zeigt und produktiv ist. Gedächtniskonkurrenzen erschweren gerade das lange vernachlässigte Erinnern an die Kolonialverbrechen der Deutschen und der Europäer*innen. Wenn Kolonialgeschichte in eine Kontinuitätslinie zum Holocaust gebracht wird, kommt es zu historischen Verzerrungen, die weder dem einen noch dem anderen gerecht werden. Benötigt wird dagegen ein Bewusstsein für die Besonderheiten beider Geschichtszusammenhänge. Eine vergleichende Genozidforschung ist längst auch im deutschsprachigen Kontext etabliert und muss nicht gegen etwas angeblich Dominantes erkämpft werden. Vergleiche sind notwendig, um historisch genau zu unterscheiden. Doch aus dem Vergleich geht keine Gleichsetzung hervor. Die Rekonstruktion ideologischer Muster von europäischer Überlegenheit (Kolonial-Rassismus), nationaler Reinheit (völkischer Antisemitismus) und bürgerlicher Selbstbestätigung (Antiziganismus beziehungsweise antiziganistischer Rassismus) verstehe ich als Zugang zu einer kritischen Geschichtsbewusstseinsbildung in der Gegenwart. Dabei lässt sich gerade am antiziganistischen Rassismus zeigen, wie wichtig eine spezifische Beachtung ist. Die verspätete Anerkennung des Genozids an den europäischen Sinti*zze und Rom*nja ist ein bedeutendes Element in der aktuellen Auseinandersetzung mit antiziganistischem Rassismus. Im Nationalsozialismus ist aus dem verbreiteten und über Jahrhunderte tradierten Ressentiment gegen die als Zigeuner bezeichneten Europäer*innen eine »Rassenutopie«[11] gemacht worden. Zu ›Rassenforscher*innen‹ erklärte ›Expert*innen‹ haben ihre Körper vermessen und sie in die aus dem Kolonialismus übernommenen Rassenkonzepte eingeordnet, um die so rassifizierte Gruppe von denen zu unterscheiden und abzusondern, die zur sogenannten ›Volksgemeinschaft‹ gehörten. Mit dem »Auschwitz-Erlass« von 1942, der die Deportation von europäischen Sinti*zze und Rom*nja in das als Zigeunerlager bezeichnete Terrain in Auschwitz-Birkenau verfügte, begann der systematische Massenmord, dem nach neueren Forschungen etwa 200.000 Sinti*zze und Rom*nja zum Opfer gefallen sind[12] und den die Bundesregierung erst 1982 als Völkermord anerkannt hat. Der Begriff »Holocaust« steht auch für diesen Tatkomplex und verbindet die Leidensgeschichten von Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Rom*nja, ohne deshalb die Unterschiede auszublenden.
Anerkennungskonflikte der Gegenwart lassen sich nicht an der Verbrechensgeschichte der Vergangenheit austragen. Wenn den historischen Opfern Anerkennung und ein würdiges Gedenken zukommen soll, dann sollte sich dies auf ihre jeweils spezifische Geschichte beziehen und nicht einen Gegensatz zu einem anderen, lange mühsam erkämpften Gedächtnis herstellen. Die zu beobachtende Attraktivität des postkolonialen Erinnerns in der Gegenwart führe ich unter anderem darauf zurück, dass der Themenkomplex bisher nicht etabliert und insbesondere nicht schulisch besetzt ist. Postkoloniales Erinnern wird nicht assoziiert mit bekannten und staatstragenden Appellen, sondern erscheint als etwas Rebellisches, Neues, für das es noch kaum eingeführte Formen gibt. Demgegenüber wird das Holocaust-Gedächtnis der (weißen) Dominanzkultur zugeordnet – in Verkennung der Jahrzehnte von Erinnerungsund Schuldabwehr, die bis heute nachwirken und um den Preis der Dethematisierung von sekundärem Antisemitismus, der sich nach Auschwitz ausgebreitet hat und den Juden einen Profit an der Erinnerungskultur unterstellt. Die Aktualität dieses Antisemitismus ist offensichtlich und zeigt sich in neu-rechten Bewegungen in aggressiver Form. Davon sollten sich alle abgrenzen, denen an historischer Selbstreflexion gelegen ist.
Wenn das postkoloniale Gedächtnis um den Preis neutralisierender Gleichsetzungen zu den NS-Verbrechen etabliert werden soll, dann wird hier für ein legitimes und bedeutendes Anliegen das falsche Objekt gewählt. Angemessener für eine postkoloniale Erinnerungskultur ist es aus meiner Sicht, beim Gegenstand selbst zu bleiben, die Kolonialverbrechen genauer zu erforschen und der Opfer würdig zu gedenken.
Astrid Messerschmidt ist seit 2016 Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: migrationsgesellschaftliche Bildung und Rassismuskritik, Antisemitismus und Antiziganismuskritik, erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung, Bildungsarbeit in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und kritische Bildungstheorie.
[1] Sznaider, Natan (2020): Rassismus versus Antisemitismus. Debatte um den Intellektuellen Achille Mbembe verläuft nach Drehbuch, www.tagesspiegel.de/politik/rassismus-versus-antisemitismus-debatte-um-den-intellektuellen-achille-mbembe-verlaeuft-nach-drehbuch/25833966.html (»tagesspiegel« vom 17.05.2020) (abgerufen am 28.01.2022)
[2] Ebd.
[3] Holz, Klaus/Kiefer, Michael (2010): Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungsstand, In: Stender, Wolfram et al. (Hrsg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und pädagogische Praxis, Wiesbaden: VS Verlag, S. 109–137: 124
[4] Adorno, Theodor W. (2001 [1951]): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp: 200
[5] Vgl. Bauman, Zygmunt (2002): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg: Hamburger Edition
[6] Messerschmidt, Astrid (2009): Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt/M.: Brandes & Apsel: 174ff.
[7] Vgl. die Kolumne von Frei, Norbert: Was sie stört; in diesem zeichen, S. 18
[8] Klävers, Steffen (2018): Postkoloniale Normalisierung: Anmerkungen zur Debatte um eine koloniale Qualität von Nationalsozialismus und Holocaust, In: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, Heft 5/2016, S. 103–116: 108
[9] Ebd.
[10] Kößler, Reinhart (2005): Kolonialherrschaft – auch eine deutsche Vergangenheit, In: Lutz, Helma/Gawarecki, Kathrin (Hrsg.): Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft, Münster: Waxmann, S. 23–40: 36
[11] Zimmermann, Michael (1996): Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische »Lösung der Zigeunerfrage«, Hamburg: Hamburger Edition
[12] Fings, Karola (2019): Der Völkermord an den Sinti und Roma im Deutschen Reich. Lokale Initiativen und nationalsozialistische Rassenpolitik, In Einsicht 2019 – Bulletin des Fritz Bauer Instituts. 11. Jg., Ausgabe 20, S. 6–15: 13
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