Über Gründe und Schwierigkeiten von Vergleichen
Am 20. März 2022, 24 Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, sprach der ukrainische Präsident vor der israelischen Knesset. Seit Kriegsbeginn war dies einer von zahlreichen Auftritten, bei denen Wolodomyr Selenskyj per Videoschalte in ein Parlament eines demokratischen Staates zugeschaltet wurde. Nur vier Tage zuvor hatte er vor dem US-Kongress gesprochen, drei Tage zuvor vor dem Bundestag. Fast überall wurden Selenskyjs Worte wohlwollend und mit großer Sympathie aufgenommen. Etwas anders die Rede vor der Knesset. Dort schlug dem ukrainischen Präsidenten in größeren Teilen Unverständnis und ein kritisches Medienecho entgegen. Grund hierfür waren mehrere direkte Vergleiche zwischen der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus und dem gegenwärtigen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. So verglich er die Situation der jüdischen Flüchtlinge von damals mit der Situation der gegenwärtigen ukrainischen Geflüchteten. Ferner sprach er von einer »Endlösung der ukrainischen Frage«, die der russische Aggressor anstrebe. Den Abschluss der Rede bildete der Hinweis darauf, dass Ukrainer*innen vor 80 Jahren eine Wahl getroffen hätten und Jüdinnen und Juden gerettet haben. Das sei der Grund, warum Ukrainer*innen als Gerechte unter den Völkern geehrt werden. Die israelischen Bürger*innen hätten nun eine vergleichbare Wahl.
Überlagerte Erinnerungsdiskurse in der Ukraine
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist in schärfster Form zu verurteilen. Täglich bombardiert das russische Militär zahlreiche zivile Ziele, es sterben tausende Ukrainer*innen, Hunderttausende sind von Nahrung und Trinkwasser abgeschnitten und Millionen müssen fliehen. Ukrainische Städte wie Mariupol und Charkiw werden dem Erdboden gleichgemacht. Das russische Militär verübt unzählige grausame Kriegsverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung.
Trotz alledem: Selenskyjs Gleichsetzungen vor der Knesset waren ahistorisch. Die nationalsozialistische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung wurde allumfänglich geplant und systematisch durchgeführt. Dafür wurden schlussendlich Jüdinnen und Juden vergast und ihre Leichen zu Hunderttausenden in Krematorien verbrannt. Gegenwärtig werden Millionen ukrainische Geflüchtete in anderen Staaten willkommen geheißen. Ganz anders erging es der jüdischen Bevölkerung Europas in den 1930er/40er Jahren. Und die Beziehungen zwischen ukrainischer und jüdischer Bevölkerung waren vor und während des Holocaust – zurückhaltend ausgedrückt – komplexer als von Selenskyj dargestellt.
Warum traf der ukrainische Präsident vor der Knesset nicht den richtigen Ton? Verließ den medienaffinen ukrainischen Präsidenten bei diesem Auftritt schlicht der eigene Instinkt? Tatsächlich ist die Antwort komplizierter und begründet sich auch aus unterschiedlich ausgeprägten Erinnerungsdiskursen. In Israel, den USA und dem westlichen Europa wurde in den letzten Jahrzehnten die Präzedenzlosigkeit des Holocaust im Vergleich zu allen anderen Verbrechen des nationalsozialistischen Terrorregimes herausgearbeitet. Der Historiker Dan Diner prägte hierfür den Begriff des »Zivilisationsbruchs«. In der Sowjetunion wurde dagegen primär an den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa erinnert. Es war untersagt, Differenzen zwischen unterschiedlichen Opfergruppen anzusprechen. Ermordete Jüdinnen und Juden, Ukrainer*innen, Belarus*innen und Russ*innen wurden alle als sowjetische Opfer tituliert.
Obwohl die ukrainische Gesellschaft innerhalb des postsowjetischen Raumes diejenige ist, die sich in den letzten 30 Jahren mit am weitesten von der sowjetischen Vergangenheit distanziert hat, wirkt de Erinnerungsdiskurse verändern. Babyn Jar, die Schlucht in der Ende September 1941 binnen zwei Tagen mehr als 30.000 Jüdinnen und Juden aus Kyjiw ermordet wurden, wurde zum bekanntesten Ort des »Holocausts durch Kugeln« (Patrick Desbois). Insgesamt wurden während des Zweiten Weltkrieges an diesem Ort aber geschätzte 100.000 Leichen verscharrt. Faktisch handelt es sich bis heute um ein riesiges Massengrab, auf dem mehrheitlich Opfer des Holocaust liegen, ebenso aber auch zahlreiche Kriegsgefangene und Zivilist*innen anderer sowjetischer Nationalitäten.
Als am 1. März 2022 eine russische Rakete auf das Gelände der Gedenkstätte einschlug, erfuhr dies international eine große mediale Aufmerksamkeit. Auch Selenskyj nahm in seiner Rede vor dem israelischen Parlament hierauf Bezug. Die Rakete, so Selenskyj, traf 7Thema den Ort, an dem »mehr als 100.000 Opfer des Holocaust begraben sind«. Der ukrainische Präsident vermischte damit den Diskurs über die Präzedenzlosigkeit des Holocaust mit der Erinnerung an die zahlreichen weiteren Opfer des deutschen Vernichtungskrieges gegenüber der Sowjetunion. Diese Art der Überlappung von Erinnerungsdebatten ist häufig anzutreffen, sie fiel aber gerade in dieser Rede auf und erschien vielen als besonders unpassend.
Geschichtsrevisionistische Propaganda in Russsland
Im Gegensatz zu den Debatten in der Ukraine ist der staatlich gelenkte russische Diskurs über eine »Entnazifizierung der Ukraine« ausschließlich als nationale Propaganda zu bewerten. Auch hierbei wird aber in Teilen an Erinnerungsdiskurse über den Zweiten Weltkrieg angeknüpft. Spätestens seit 2005 bemühte sich die russische Regierung darum, den Sieg der Alliierten von 1945 als wichtiges gesamtgesellschaftliches Nationalnarrativ im Land zu erneuern. Dieser Sieg, an dem die Sowjetunion maßgeblichen Anteil hatte, wird als entbehrungsreicher nationaler Triumph gegen einen grausamen Feind propagiert. Mit der seit 2014 vorherrschenden falschen Behauptung, dass in der Ukraine ein illegitimes faschistisches Regime herrsche, findet nun eine Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart statt. Der Zweck dieser Propagandalüge, die bei der Mehrheit im Land zu verfangen scheint, ist simpel: Wenn unser Land früher unter schwierigsten Umständen den Faschismus besiegt hat und dieser uns nun ein weiteres Mal bedroht, müssen wir alles dafür tun, unseren Sieg zu wiederholen – koste es, was es wolle. Diese groteske historische Herleitung wird auch dadurch genährt, dass ukrainische Nationalisten im Zweiten Weltkrieg zeitweilig mit den deutschen Besatzern kooperierten und nach dem Krieg durch einen Partisanenkampf versuchten, gegenüber der Sowjetunion eine staatliche Souveränität der Ukraine zu erzwingen.
Eine angebliche historische Notwendigkeit eines Zusammenschlusses zwischen Russland und der Ukraine beruht aber nicht nur auf diesem Erinnerungsdiskurs. Dem Staatspräsidenten und Hobbyhistoriker Wladimir Putin geht es vielmehr um eine vermeintliche gemeinsame Geschichte »von mehr als tausend Jahren«. Die Geschichte des mittelalterlichen Großreiches Kiewer Rus dient dem Kreml dazu, territorialen und machtpolitischen Anspruch auf die Staatsgebiete Russlands, Belarus und der Ukraine zu erheben. Dafür werden passende historische Bezüge angeführt und unpassende verschwiegen.
Auch wenn es bei all dem um die Etablierung eines neuen russischen Imperiums geht, strebt die russische Elite kein Wiederaufleben der Sowjetunion an. Das heutige russische Imperium basiert auf vollkommen anderen kulturellen und politischen Parametern. So fehlt die zumindest rhetorisch formulierte Friedfertigkeit der sowjetischen Ära oder ein irgendwie anders gearteter gesellschaftspolitische Anspruch. Wie funktional Putin mit der sowjetischen Geschichte umgeht, wurde in seiner Rede vom 21. Februar 2022 deutlich. Darin rechnete der russische Präsident mit der frühen Nationalitätenpolitik der Sowjetunion ab. Das Staatsgebiet der heutigen und damaligen Ukraine – zu Lenins Zeiten noch ohne die Krim – bezeichnete er als »Wladimir-Lenin-Ukraine« und distanzierte sich damit deutlich vom historischen Erbe des Gründers der Sowjetunion. Zugleich lobte er jedoch mehrere »Verdienste« Stalins. In der Ukraine wurde hieraus in kürzester Zeit ein sarkastischer Witz: Wenn in Russland nun von der »Wladimir-Lenin-Ukraine« gesprochen wird, wäre es doch langsam an der Zeit, Lenin aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau nach Kyiv umzubetten.
Die Gründe für das Heranziehen von historischen Bezügen auf russischer und ukrainischer Seite sind grundverschieden. Während es der ukrainischen Seite darum geht, das eigene Land zu verteidigen und die internationale Gemeinschaft wachzurütteln, formuliert die russische Seite hieraus imperiale Ansprüche. Für die Ukrainer* innen ist es eine schlichte Überlebensstrategie, auf russischer Seite wird damit ein Angriffskrieg begründet.
Nichtsdestotrotz bleibt es wichtig, ahistorischen Vergleichen auf beiden Kriegsseiten zu widersprechen. Ich bin mir bewusst, dass eine Analyse der erinnerungspolitischen Überlagerungen in der Ukraine niemanden vor Raketen oder Artilleriebeschuss schützt. Dennoch hilft die Entschlüsselung von Überlagerungen in Erinnerungsdiskursen und die Kritik an fragwürdigen Vergleichen, Geschichte und Gegenwart besser zu verstehen. Ebenso schützt es gegen geschichtsrevisionistische Propaganda – gegen Lügen, wie wir sie momentan tagtäglich von der russischen Kriegsseite aufgetischt bekommen.
Jakob Stürmann ist am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow tätig. Er ist seit 2016 ASF-Vorstandsmitglied und seit Oktober 2020 stellvertretender Vorsitzender des Vereins. Er absolvierte einen Langzeitfreiwilligendienst mit ASF in Simferopol (Ukraine).
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