Wir leben in einer Migrationsgesellschaft – was bedeutet das für unsere Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte?

Der ASF-Arbeitsbereich »Geschichte(n) in der Migrationsgesellschaft«

Migration gehört zur deutschen Geschichte und Gegenwart. Menschen kommen für Arbeit, Studium und Familie oder suchen Zuflucht vor Krieg, Verfolgung und Gewalt. Einige gehen nach einiger Zeit – freiwillig oder unfreiwillig, ein Großteil ist geblieben und bleibt. So prägen viele Generationen von Migrant*innen dieses Land und seine Gesellschaft. Rund 27 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben familienbiografische Migrationsbezüge. Damit einher geht auch ein Wandel hin zu hybriden Identitätsbezügen und vielschichtigen Zugehörigkeiten. Unsere Gesellschaft wird vielfältiger und reichhaltiger an Erfahrungen und Perspektiven. Zugleich hat der (zugeschriebene) »Migrationshintergrund« negative Auswirkungen auf Teilhabechancen und Repräsentation in gesellschaftlichen Strukturen und Diskursen. All das beschreibt der Begriff Migrationsgesellschaft: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Migration ein prägender Faktor für das Zusammenleben ist und das schließt alle Menschen, ob mit oder ohne familiäre Migrationsbezüge, ein.

Was bedeutet das für die Erinnerung an den Nationalsozialismus?

Diese Frage war der Anlass für die Gründung des ASF-Arbeitsbereichs »Geschichte(n) in der Migrationsgesellschaft« im Jahr 2000. Zunächst ging es um die Frage, ob der Umstand, dass zugewanderte Menschen neue persönliche, familienbiografische Bezüge zur NS-Geschichte
einbringen, die Auseinandersetzung mit dieser verändert. So fiel der Blick auf Narrative in migrantischen Communities, Geschichten von Besatzung und Verfolgung, Widerstand und Zufluchtsorten sowie Mittäterschaften. Klar ist, dass das Interesse sich nicht am »Migrationshintergrund« festmachen lässt, sondern oft daran liegt, wie Geschichte pädagogisch vermittelt wird. Es braucht rassismuskritische Methoden, die Raum geben für eine Vielfalt von Bezügen.

Seit 2006 führen wir mit Stadtteilmüttern in Berlin Seminare durch. Die Teilnehmerinnen sind Frauen mit Migrationsgeschichten, die als Familienberaterinnen tätig sind. Initiiert wurden die Seminare von Neuköllner Stadtteilmüttern, die sich ein größeres historisches Wissen erarbeiten wollten, um fundierter in gesellschaftlichen Debatten mitreden und ihre Kinder im Lernprozess zur NS-Vergangenheit kompetenter begleiten zu können. Schwerpunkte des Seminarangebots sind der Holocaust, Antisemitismus, der NS-Völkermord an Sinti*zze und Rom*nja, Ausgrenzungs- und Verfolgungsmechanismen sowie der heutige Umgang mit dieser Geschichte. Basierend auf unseren
Erfahrungen aus dem Projekt »Neuköllner Stadtteilmutter auf den Spuren der NS-Geschichte« bieten wir deutschlandweit Seminarreihen an, unter anderem mit Romnja, Geflüchteten und anderen Multiplikator*innen aus der Arbeit in migrantischen Communities. Wir organisieren Workshops mit Sozialarbeiter*innen und Tagungen mit historisch-politischen Bildner*innen. In Publikationen, Ausstellungen und Veranstaltungen geben wir Raum für verschiedene Perspektiven in der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in der Migrationsgesellschaft.

Welchen Perspektiven begegnen wir in den Seminaren?

Die Perspektiven sind geprägt von vielfältigen Identitäten und Zugehörigkeiten, individuellen Lebenserfahrungen, politischen Einstellungen, Wissen, Narrativen und Erinnerungsdiskursen und vielem mehr. Die persönliche Flucht- oder Migrationserfahrung kann auch eine Rolle spielen, die Perspektive lässt sich jedoch keinesfalls darauf reduzieren.

Ein großer Teil unserer Teilnehmer*innen legt durch ihr Engagement in der Community- und Empowerment-Arbeit einen besonderen Fokus auf die Weitergabe von historischem Wissen, insbesondere an die jüngere Generation.

»Man muss die Geschichte des eigenen Landes kennen, um die Gegenwart mitgestalten zu können und ein gutes Zusammenleben zu schaffen. [...] Aus der Geschichte können wir lernen: Wir wollen
uns gegen die Verfolgung und Diskriminierung von Minderheiten engagieren – gerade auch, weil wir selbst zu einer Minderheit gehören.«
Dalal Hassanein

Der Bezug auf die eigenen Erfahrungen als Angehörige einer Minderheit kann den Blick für Ausgrenzungsmechanismen in der Geschichte schärfen und darüber hinaus auch einen Bezugspunkt für solidarisches Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus in unserer heutigen Gesellschaft bilden. In der Auseinandersetzung mit der Geschichte verweisen Teilnehmende an vielen Stellen auf die universale Bedeutung des Holocaust als wichtigen Bezugspunkt für die Forderung nach Menschenrechten.

In Seminaren mit in den letzten Jahren eingewanderten Menschen, erleben wir, dass das Interesse an der Geschichte auch mit Fragen von Orientierung in der neuen Gesellschaft verknüpft wird. Oft kommen dann persönliche Erfahrungen mit politischer Gewalt, die eigene Fluchtgeschichte oder Rassismuserfahrungen in Deutschland oder andernorts zur Sprache.

»Mit dem Wissen um die Geschichte kann man die Welt verstehen und man kann sich orientieren. Deshalb finde ich, dass es wichtig ist, sich mit der Geschichte zu beschäftigen und sich auszukennen.«
Momodou K. (Name geändert)

Immer wieder hören wir von Teilnehmer*innen, dass ihnen fehlendes Interesse vorgeworfen oder ihnen gesagt wird, dies sei »nicht ihre Geschichte«. Das Sprechen über die NS-Geschichte kann auch
zum Ausgrenzungsmechanismus werden, wenn migrantisch gelesenen Menschen für ihre Beschäftigung mit der Geschichte von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft Überraschung oder sogar Ablehnung entgegenschlägt. Dies zeigt sich auch, wenn die Teilnehmenden von ihren familienbiografischen Bezügen zur NS-Geschichte berichten. Insbesondere unter den teilnehmenden Romnja sind Nachkommen von Zwangsarbeiter*innen, von Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager oder von Partisan*innen.

»Leider sind wir mit unserer Geschichte nicht immer willkommen. Ich mache die Erfahrung, dass mir bei dem Thema Nationalsozialismus zum Teil mit Ablehnung begegnet wird, dass manche vielleicht einen Vorwurf verspüren und die Geschichte am liebsten verdrängen wollen. [...] Dass ausgerechnet in Deutschland eine rechte Partei immer mehr an Einfluss gewinnt, schockiert mich und macht mich nervös. Geschichtsverleugnung ist gefährlich und legt den Grundstein für rechtsextreme Gewalt, wie die Morde in Hanau.« Serbez Heindorf

Wie wollen wir an die NS-Geschichte in einem von Migration geprägten Land erinnern?

Die Erinnerung an die NS-Gewaltverbrechen prägt bis heute politische Entscheidungen in Deutschland und die Beziehungen zu vielen Ländern. Sie wird in Erinnerungsorten und Geschichtsinitiativen sichtbar, aber auch in Form von Abwehr, Revisionismus, Kontinuitäten und
Schlussstrichforderungen. Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte relevant – für jede*n, ob mit oder ohne Migrationsbiografie.
Erinnerung und damit verbundene Diskurse und Rituale sind eng mit der Entwicklung kollektiver Identitäten verknüpft. Diese sind jedoch komplex und vielschichtig. Dies anzuerkennen und Fremdzuschreibungen zu vermeiden, ist wichtig, um miteinander zur NS-Geschichte ins Gespräch zu kommen. Gerade die Stimmen von Menschen, die heute von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind, sollten hier Gehör finden.

Clara Tamir Hestermann und Sara Spring sind Projektkoordinatorinnen im Arbeitsbereich »Geschichte(n) in der Migrationsgesellschaft«

 

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