Interview mit Irina Scherbakowa zur staatlichen Auflösung von MEMORIAL International ´
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Ende Dezember 2021 ordnete das Oberste Russische Gericht die Auflösung der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL International an. Die Organisation wurde 1988 gegründet und bildet inzwischen eine Föderation aus 80 Organisationen in Russland, weiteren post-sowjetischen Ländern und in Europa. Nicht alle Institutionen sind von der Schließung betroffen. Schwerpunkt der Arbeit von MEMORIAL ist die Aufarbeitung der stalinistischen Verfolgung, der Einsatz für Menschenrechte und die Versorgung von Überlebenden der stalinistischen Repressionen. Irina Scherbakowa ist Mitbegründerin von MEMORIAL. Das Interview wurde am 28. Februar 2022 geführt.
Jutta Weduwen: Ende Dezember 2021 hat der Oberste Gerichtshof die Auflösung von MEMORIAL International angeordnet. Sie haben MEMORIAL vor mehr als 30 Jahren mitgegründet. Was be deutete und bedeutet MEMORIAL für Sie?
Irina Scherbakowa: Das Anliegen ist all die Jahre das gleiche geblieben und ist heute wieder ganz aktuell geworden. Das Anliegen war damals und ist es heute, dass die Geschichte der politischen Repressalien in Russland und in der Sowjetunion an die Öffentlichkeit kommt und aufgearbeitet wird. Ich hatte mich schon lange vor der Gründung mit dem Thema befasst. Ich habe Interviews mit Überlebenden der Gulags, mit Überlebenden des stalinistischen Terrors durchgeführt. Die Aktivisten der ersten Stunde bei MEMORIAL waren selten Historiker, wir hatten verschiedene Berufe und sind Historiker und Forscher geworden. Aus uns ist eine Bewegung geworden.
Wie hat sich MEMORIAL in den letzten rund 30 Jahren entwickelt, wie ist die Resonanz, die Unterstützung und das Interesse in der Öffentlichkeit?
Einerseits haben wir in den 1990er Jahren erlebt, wie das Interesse an dieser Aufarbeitungsgeschichte erloschen ist. Man hatte das Gefühl, zu den alten Kadern zu gehören und dass sich die breite Öffentlichkeit mit der Gegenwart und der Zukunft und mit anderen Themen beschäftigen wollte. Mit dem Krieg in Tschetschenien wurden wir Menschenrechtler*innen ohnehin schief angesehen. Aber in den letzten, vielleicht acht, neun Jahren ist die Zustimmung zu unserer Arbeit gewachsen. Wir erleben einen Wechsel der Generationen und ein zunehmendes Interesse an der MEMORIAL-Arbeit bei jungen Menschen. Ein Beispiel ist die Gedenkzeremonie am Solowezki-Stein am Lubjanka-Platz in Moskau, der seit 30 Jahren an die Opfer der politischen Verfolgung erinnert. Zur Namenslesung kamen im letzten Jahr trotz Kälte sehr viele Menschen. Sie warteten teilweise drei Stunden, um zwei Namen zu lesen. Das war sehr beeindruckend und für mich ein wichtiges Zeichen. Die Geschichte wird nur dann wichtig für die junge Generation, wenn sie wissen, dass sie eine Bedeutung in der Gegenwart hat.
MEMORIAL ist eine Föderation, die in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und auch an anderen Orten vertreten ist. Wie verläuft der Dialog über verbindende und trennende Geschichten?
Die ehemaligen sowjetischen Republiken verbindet die gemeinsame Vergangenheit, der Terror und die Repressalien, die alle Völker der Sowjetunion erfahren haben. Aber es gab auch trennende Bewegungen vor allem in den 1990er Jahren. Es ging um nationale Geschichtsbilder, um Fragen, wer die meisten Opfer hat, um Besatzungen und Annexionen, um schwierige Beziehungen und Verletzungen. MEMORIAL wandte sich dann 2008 mit einem Appell[1] an alle ehemaligen sowjetischen Republiken, dass wir im Dialog bleiben. Dass unser Leiden, unsere Vorstellungen von der Geschichte, unsere nicht beglichenen Rechnungen in einem Dialog aufgearbeitet werden sollten. Dabei haben uns immer auch Vermittler*innen unterstützt, Historiker*innen aus anderen Ländern und auch ASF hat diese Rolle eingenommen, weil deren Arbeit in verschiedenen Ländern stattfindet. ASF und MEMORIAL beschäftigen sich mit schrecklichen Katastrophen, die wir im 20. Jahrhundert erlebt haben. Der Terror richtete sich immer gegen bestimmte Gruppen, die zu Feindbildern gemacht werden. Zwischen Hitlerdeutschland und der stalinistischen Verfolgung gab es Unterschiede. Offiziell gab es in der sowjetischen Ideologie keine Rassentheorie, sie wurde gerade von der marxistischen und leninistischen Ideologie verneint, egal wie heuchlerisch das war. Besonders die Zwangsarbeiter*innen waren von beiden Verfolgungen betroffen. ASF und MEMORIAL verbindet auch der Ansatz der Arbeit. Eine Arbeit mit Menschen und Biografien. Das Anliegen von MEMORIAL war bei der Gründung, sich um jedes Schicksal zu kümmern. Bisher haben wir etwa vier Millionen individuelle Schicksale erfasst, das ist ungefähr ein Drittel. Wir befragen Menschen, wir sammeln, unser Archiv ist ein Erinnerungsort.
Wie erklären Sie sich die Zuspitzung der behördlichen beziehungsweise staatlichen Repressalien gegenüber der Arbeit von MEMO RIAL? Die Verfahren zur Auflösung MEMORIALS verliefen zeitgleich zum Aufzug des russischen Militärs an den ukrainischen Grenzen ...
Was jetzt passiert, macht die Arbeit von MEMORIAL aktueller denn je. Die Staatsanwaltschaft hat deutlich gesagt, warum MEMORIAL liquidiert wird, nämlich weil wir die Geschichte falsch darstellen und Lügen verbreiten würden. Wenn wir die aktuellen Ereignisse beobachten, erschließt sich mir, warum die Liquidierung unserer Arbeit so dringlich vorangebracht wurde. Es geht um die Zerschlagung des MEMORIAL-Netzwerkes, um die Zerschlagung eines Netzwerkes, das sich kritisch mit der Geschichte auseinandersetzt. Die Propaganda heute macht mir Angst, die Worte Putins über die angeblichen Massengräber im Donbas, den angeblichen Genozid der Ukrainer an den Russen. Als glaubte er, dass man damit die Verantwortung für den Krieg auf eine höhere Stufe bringt und die ganze Geschichte viel wichtiger, tragischer, ernsthafter mache. In Wirklichkeit geschieht das Gegenteil.
Wie kann es mit der Arbeit von MEMORIAL weitergehen?
Wir werden massiv angegriffen, alles Grundlegende unserer Arbeit soll zerstört werden: unsere Forschung, unsere Bereitstellung von Informationen, unsere Menschenrechtsarbeit, unsere Schüler-Wett bewerbe. Auch unsere Räumlichkeiten werden uns genommen. Das Wichtigste und Wertvollste haben wir gescannt. Aber, was machen wir mit den Originalen, mit den Unikaten, was passiert mit den Ergebnissen unserer Recherchen? Uns wurden viele Geschichten und Dokumente anvertraut. Viele Menschen, die kritisch denken, verlassen das Land. Wir werden und müssen unsere Arbeit fortsetzen. Ohne die Geschichte aufzuarbeiten, gibt es keine Zukunft. Die Arbeit des Menschenrechtszentrums wird darin bestehen, weiter Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und an den europäischen Gerichtshof weiterzuleiten. Unsere Recherchen müssen weitergehen, wir werden uns weiter vernetzen und das breite internationale MEMORIAL Netzwerk, zu dem auch viele ASF-Freiwillige gehören, wird uns dabei helfen.
Liebe Frau Scherbakowa, ich bin voller Hochachtung für Ihre mutige und wichtige Arbeit. Ich wünsche Ihnen, Ihren Freund* innen und Kolleg*innen von Herzen alles Gute für Ihre nun massiv erschwerte Arbeit.
Irina Scherbakowa ist Historikerin, Publizistin und Mitbegründerin von MEMORIAL International. Sie hat an Universitäten in Deutschland und Österreich gelehrt und ist Mitglied im ASF-Kuratorium. Irina Scherbakowa hat Russland im März 2022 verlassen.
Jutta Weduwen ist Geschäftsführerin von ASF.
[1] Nationale Geschichtsbilder – Das 20. Jahrhundert und der »Krieg der Erinnerungen«, Moskau 2008, https://www.eurozine.com/nationale-geschichtsbilder/
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