60 Jahre ASF-Sommerlager
Inzwischen gehören die Sommerlager schon 60 Jahre lang zu den Freiwilligendiensten bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und begeistern bis heute Menschen verschiedener Nationalitäten und Altersgruppen. In zwei Wochen gemeinsamer Sommerlagerzeit kann eine ganze Menge passieren und alle – so würde ich behaupten – kehren nach dieser Erfahrung als andere Menschen zurück in ihren Alltag, als die sie gekommen sind.
Was macht die Sommerlager bei ASF so besonders? Darauf ließen sich sicherlich sehr viele, sehr verschiedene Antworten finden. 60 Jahre Sommerlager bedeutet schließlich, dass eine große Zahl an Menschen – Teilnehmende, Teamer*innen, Projektpartner*innen, Zeitzeug*innen, Freund*innen von ASF, lokale Unterstützer*innen und viele mehr – in ihren Lebensgeschichten von den Sommerlagern geprägt wurden und werden. Jede*r von ihnen hätte etwas anderes zu erzählen.
Denke ich an die Sommerlager, die ich in der Arche in Antwerpen, einer Lebensgemeinschaft für Menschen mit und ohne geistige Behinderung, mit leiten durfte, sehe ich vor meinem inneren Auge eine Gruppe aufgeregter motivierter Menschen auf gelben Rädern durch die fahrradfreundlichen Straßen Belgiens sausen. Ich sehe vom Streichen, Fensterputzen und Pflastern erschöpfte, aber glückliche und stolze Gesichter und bergeweise selbstgekochtes Essen aus Russland, Aserbaidschan, Vietnam, Belarus, Tschechien und Deutschland. Ich staune, wie ohne jegliche flämische Sprachkenntnisse, nur mit ein paar eilends gelernten Gebärden im Gepäck, Kontakte zwischen Bewohner*innen der Arche und den Sommerlagerteilnehmer*innen geknüpft werden. Es wird gemeinsam UNO gespielt, Gemüse geschnippelt, getanzt und gesungen. Ich sehe Menschen, die sich für die Thematik „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen" begeistern und während des Sommerlagers mit großem Interesse auf die verschiedenen biografischen, nationalen und altersbedingten Perspektiven, die die Gruppe mitbringt, blicken. Ich höre wieder das Unverständnis über Rollenverteilungen – Essen kochen, Saubermachen, Aufräumen – und erinnere mich, wie darum gerungen wird, ein gutes Miteinander zu schaffen, und wie wir darin besser werden. Ich fühle, wie wir als Teamerinnen an der Aufgabe, dieses Sommerlager zu gestalten, wachsen und wie das Vertrauen in unsere Fähigkeiten uns beflügelt. Aber vor allem sehe ich ein Interesse daran, gemeinsam vor Ort zu sein – in diesem Land, in dieser Stadt, in der Arche, mit den Menschen an diesem Ort und gemeinsam als Gruppe. Neugierig und bereit, sich darauf einzulassen, was in zwei Wochen Sommerlager so alles passieren kann.
Was für mich die ASF-Sommerlager so besonders macht, ist, dass in diesen zwei Wochen Menschen miteinander sprechen und gemeinsam handeln, die sich sonst nicht begegnet wären.
Die Sommerlager in Antwerpen liegen nun schon eine Weile zurück. Lassen wollte ich von ihnen aber nie. Deshalb engagiere ich mich seit einigen Jahren im Leitungskreis, dem ehrenamtlichen Gremium bei ASF, das die Sommerlagerarbeit mit begleitet. Das Schöne daran ist, dass ich hier aufgehoben bin mit meiner Begeisterung für diese vielen kleinen Friedensdienste. Gleichzeitig kann ich durch die Begegnungen mit all den anderen, die ehren- und hauptamtlich mit den Sommerlagern verbunden sind, einen Blick über meine eigenen Erfahrungen hinaus werfen und darf so teilhaben an all den vielfältigen Perspektiven. Zwei seien hier stellvertretend für die Mitglieder des Leitungskreises vorgestellt:
„Ich war immer fasziniert davon, wie viele intensive Erfahrungen die Teilnehmer*innen machten, welche bewegenden Begegnungen wir oft im Rahmen der Sommerlager mit Überlebenden von nationalsozialistischen Verbrechen hatten und wie verbindend es war, zwei Wochen losgelöst vom Alltag, sich einer guten Sache zu widmen, gemeinsam zu arbeiten, sich auszutauschen, zu lachen. Gerade die Vielfalt der Teilnehmenden, z. B. in Bezug auf Alter und das Herkunftsland, sorgen immer für vielschichtige und neue Blicke auf die Geschichte." Valentin Jandt-Ilgenstein
„Bei ASF treffen fast immer Menschen aufeinander, deren starkes Gerechtigkeitsempfinden und deren Sicht auf die Welt sich gleichen und die sich in ihrem Engagement für eine offene und wertschätzende Gesellschaft gegenseitig bestärken. Sommerlager ermöglichen diese bereichernden Begegnungen in der kürzesten, aber intensivsten Form auf internationaler Ebene." Viola Renner-Motz
Beim Eintauchen in die vielen Berichte, die in 60 Jahren Sommerlager entstanden sind, begegnet mir immer wieder die Suche nach den Geschichten hinter der Geschichte als treibende Motivation für eine Teilnahme. Die Suche nach den verschiedenen Perspektiven auf die Orte, an denen (NS-)Verbrechen stattfanden und an denen sich aktuell soziale und politische Herausforderungen zeigen. Begegnungen mit den Menschen vor Ort, die die Sommerlagergruppen über die angebotene Hilfe hinaus willkommen heißen, tragen durch ihre Geschichten dazu bei, das anfängliche Bild zu erweitern und zu bereichern. Die sich an diesen Geschichten entspinnenden Gespräche innerhalb der Gruppen, die sich durch Internationalität, unterschiedliche Altersgruppen und Lebensgeschichten auszeichnen, nehme ich als für viele Menschen besonders wertvoll wahr. Die Frage, was das Vergangene heute mit uns zu tun hat, ist dabei oftmals zentral. All dies passiert nicht immer überall gleich intensiv und wenn, ist es auch nicht immer einfach, andere Sichtweisen zu hören, Fragen zuzulassen und keine endgültigen Wahrheiten oder Lösungen ausmachen zu können. Aber die Sommerlager sind ein Angebot zur Begegnung mit diesen Perspektiven.
Auch das praktische Arbeiten, das nahezu immer ein fester Bestandteil ist, trägt in meinen Augen zur Attraktivität der Sommerlager bei. Es ermöglicht, etwas zu bewirken, was eine Person allein nicht hätte schaffen können. Das Gefühl, gemeinsam etwas bewahren zu können, was sonst verloren ginge, etwa die Namen auf den Grabsteinen jüdischer Friedhöfe oder Unterstützung zu leisten, wo sie gebraucht wird, wie zum Beispiel beim Renovieren der Wohnungen ehemaliger Zwangsarbeiter*innen, machen diese Friedensdienste so besonders. „Mit unseren Händen etwas Gutes tun", so steht es im Gründungsaufruf Lothar Kreyssigs aus dem Jahr 1958. Das ist damals aktuell gewesen und ist es heute.
Die Pandemie hat die Sommerlager besonders hart getroffen. 2020 mussten alle geplanten Projekte abgesagt werden, 2021 konnte glücklicherweise wenigstens in Buchenwald und Wrocław vor Ort und in Berlin Schöneweide und Oświęcim digital gearbeitet werden. Aber wir bleiben dran und auch, wenn selbst 2022 nicht die volle Breite der bisherigen Sommerlager ausgeschöpft werden kann, weil auf die individuelle Situation unserer Projektpartner*innen vor Ort Rücksicht genommen werden muss, tasten wir uns langsam wieder zurück in eine bunte vielfältige Sommerlagersaison, die sich weiterhin jedes Jahr wiederholen möge.
Helene Utpatel hat seit ihrem ASF-Freiwilligendienst in der Arche in Antwerpen 2010/2011 mehrere Sommerlager vor Ort mitgeleitet. Nach ihrem Theologiestudium promoviert sie aktuell im Bereich Religionspädagogik an der Universität Halle. Sie ist Mitglied im ASF-Leitungskreis.
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