Verflechtungen von Postkolonialismus und Antisemitismus? Die Causa Mbembe

Foto: Heike Huslage-Koch

Anlässlich der Einladung des postkolonialen* Denkers Achille Mbembe zur Eröffnung der Ruhrtriennale Anfang 2020 warf unter anderem Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung zur Bekämpfung von Antisemitismus, ihm israelbezogenen Antisemitismus vor, der sich an Mbembes Einschätzung von Israel als Kolonialstaat und der Unterstützung für Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) zeige. Klein sah in den Schriften Mbembes die Singularität der Shoah negiert und die Erträge der deutschen Erinnerungskultur missachtet.

Mbembes Postkoloniale Position

Um Achille Mbembe in den postkolonialen Theorien zu verorten, ist ein Blick in sein prominentestes Werk »Kritik der schwarzen Vernunft« ratsam. Anhand dessen lässt er sich in der Theorie des Provincializing Europe des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty verorten, die von einer Deklassierung Europas ausgeht. In seinem gesamten Werk nutzt er das N-Wort*. Dabei ist dieses für ihn ein Ausbeutungskörper, der immer wieder reproduziert wird. Anhand eines europäischen Habitus beispielsweise bezogen auf Migrant*innen kann eine Parallele zu Sklav*innen in Mbembes Postulat der »conditio nigra« für alle subalternen Gruppen und Individuen gezogen werden. Wo Fremdenfeindlichkeit ausgrenzt und Andersgläubige herabgesetzt werden, greife die globale »conditio nigra« als bestimmendes Moment unserer Gegenwart. Diesen Diskriminierungszusammenhang formuliert er gleichzeitig als ein Moment der Stärke. Für Mbembe ist die Begrifflichkeit »conditio nigra« wesentlich mehr der Hintergrund gewesen, dass die Herkunft den Anstoß dafür bilde, über die allgemeine »conditio humana« nachzudenken. Mbembe nimmt die »conditio nigra« als ein Postulat des »Schwarzwerdens der Welt«. Dies begründet Mbembe in seiner Vorstellung einer idealen Welt, die von einer internen Vernunft beherrscht werde, die sich nicht an nationalen Grenzen bemessen ließe und so alle Menschen der Welt einbeziehe.

Mbembes »moralische Gesinnung des Reparierens « ist eine Forderung zur Aufarbeitung rassistischer Sprache und Politik sowie zu Wiedergutmachung. Der Glaube, dass es die gemeinsame Aufgabe aller Menschen ist, die Erde zu reparieren und dass die Welt allen Menschen gleichermaßen gehört, geht mit dem Akt des gerechten Teilens einher. Die Frage von Wahrheit und Aufrichtigkeit des europäischen Umgangs mit dem globalen Süden ist mit der Frage nach der Reparatur zerrissener Bande verbunden. Europa müsse sich daher seiner Schuld stellen, in deren Bewältigung ein Umdenken stattfinden solle – die Dekolonisation des Denkens in allen Bereichen des Lebens unter dem Slogan »Decolonize Yourself«. Hinsichtlich der unumkehrbaren kulturellen Verflochtenheit in der Welt kann laut Mbembe nur ein Prozess des heilenden Aneinanderfügens der gewaltsam amputierten Teile der Weltgesellschaft einer Zukunft dienlich sein.

Leerstellen der postkolonialen Studien?

Mbembe weist die Vorwürfe und eine Nähe zur BDS-Bewegung entschieden zurück – allerdings steht er dazu, dass er offen die israelische Politik kritisiert. Die Grenze zwischen politischer Kritik am Staat Israel und antizionistischem Antisemitismus ist nicht deutlich zu ziehen. Überdies findet sich in vielen Werken der postkolonialen Studien eine einseitige Parteinahme gegen Israel als imperialistischer Kolonialstaat.

Die Debatte zeigt ein tieferliegendes Problem, das jenseits der Rassismus- und Postkolonialismusforschung zu verorten ist: eine Leerstelle in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und der Intersektionalität von Diskriminierungsformen. Die Diskussion zeigt den postkolonialen Hang zur strategischen Selbstverortung innerhalb einer Verbindung eines partikularen und universellen Anliegens. Andererseits geht es inhaltlich in der Aussage Mbembes darum, dass kein menschliches Leid weniger bedeutsam ist als das andere und so auch nicht die Leiden der Shoah.

Zur Verhältnisbestimmung von Antisemitismus und Rassismus liegen in der Wissenschaft zahlreiche Auseinandersetzungen vor. Überwiegend wird Antisemitismus von postkolonialen Theoretikern als eine Rassismusform verstanden. Diese Definition wird in der Antisemitismusforschung vielfach als Abwertung und Ignoranz gegenüber den einzigartigen Merkmalen des Antisemitismus empfunden.

Die Defizite in der öffentlichen Mbembe-Debatte

Einige Stimmen in der Mbembe-Debatte betonen, dass der Antisemitismusverdacht benutzt werde, um einer Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands aus dem Weg zu gehen. Ähnlich wie die Philosophin Susan Neiman und die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann es formulieren, geht es um das Verhältnis der Erinnerungskulturen zueinander, da nur durch ein solidarisches Ineinandergreifen ein effektiver globaler Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus geführt werden könne, der diejenigen in die Pflicht ruft, die vergangenes Unrecht wiedergutzumachen haben und sich somit der Aufarbeitung des Bösen in der eigenen Geschichte zu stellen haben.

In der Debatte um Mbembe treffen zwei große Narrative der letzten Jahrhunderte aufeinander, wobei alle Beteiligten mit der Rhetorik des Verdachts agieren, welche zum Machtkampf der Ideen gehört. Die wissenschaftliche Legitimität der Narrative der Shoah und des Kolonialismus werden im Kontrast zur Schuld und deren Aufarbeitung nicht in Frage gestellt, sodass sich eine Art Konkurrenzkampf zwischen beiden Forschungszweigen entwickelte. Diese unterscheiden sich im Kern nicht wesentlich, da beide sich mit Ausgrenzungsmechanismen und Diskriminierungsstrukturen durch die weiße westliche Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzen und wie gegen diese vorgegangen werden kann. Dieser Konkurrenzkampf verstellt den Blick auf die jeweils spezifische und zugleich korrelierende Geschichte und wird den aktuellen Bedürfnissen einer sich globalisierenden Erinnerungskultur nicht gerecht.

Perspektiven für zukünftige Debatten 

Fraglich bleibt, warum nicht gemeinsam unterschiedliche Arten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit analysiert werden können, wie unter anderem in der vergleichenden Genozidforschung. Insgesamt findet an deutschen Universitäten kaum Austausch zwischen Postkolonialismus* und Antisemitismusforschung statt. Auch wenn Antisemitismus und Rassismus sich historisch und gegenwärtig voneinander unterschieden, darf die Verflochtenheit der beiden gesellschaftlichen Phänomene nicht außer Acht gelassen werden. Da sich Gemeinsamkeiten in Funktion und Wirkweisen von Antisemitismen und Rassismen ausmachen lassen, ist es für einen vergleichenden Blick bereichernd, wenn die spezifischen Forschungserkenntnisse aufeinander bezogen werden. So ließen sich zum Beispiel mit dem postkolonialen Konzept des Otherings* Dichotomisierungsprozesse besser nachvollziehen. Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt verweist darüber hinaus auf die Bedeutung der Vorurteilsforschung, die zwar ein wesentliches Fundament der Antisemitismus- und Rassismuskritik bildet, aber durch die aktuelle Rassismusforschung noch zu ergänzen sei. Fernerhin bedarf es einer kritischeren Beschäftigung mit der kollektiven Erinnerungspolitik in Deutschland, da diese Rassismus insbesondere in den nationalsozialistischen Kontext rückt, Antisemitismus tabuisiert und einer Aufarbeitung des Kolonialismus noch nicht wesentlich nachgekommen ist.

Alica Johanna Saathoff studiert an der Carlvon- Ossietzky Universität Oldenburg Geschichte und Evangelische Theologie für den gymnasialen Master of Education sowie den Fachmaster Ökumene und Religionen und steht kurz vor der Beendigung des Studiums. Sie ist Mitglied im Netzwerk für antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie und zertifiziert in den Interkulturellen Jüdischen Studien.

 

*POSTKOLONIALISMUS: Postkolonialismus ist eine geistige Strömung, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus entwickelte. Postkolonial beschreibt nicht nur die Situation nach dem formalen Ende kolonialer Herrschaft. Postkoloniale Kritik zielt auch auf die Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses. Wegweisend für die kritische Infragestellung der lange als positiv bewerteten Kolonialisierungsgeschichte wurde das Buch »Orientalism« (1978) des Literaturkritikers Edward Said, das vielen als das »Gründungsdokument« des Postkolonialismus gilt.

*N-WORT: Das N-Wort kommt von »niger«, was lateinisch »schwarz« bedeutet. In der Kolonialzeit wurde das N-Wort von Kolonialisten geprägt und erhielt eine stark abwertende Konnotation. Entsprechend wird der Begriff bis heute verwendet und gilt als rassistische Bezeichnung, die dazu dient, eine soziale Degradierung vorzunehmen und ein hierarchisches Verhältnis auszudrücken. Die Bezeichnung ist stark diskriminierend und sollte nicht verwendet werden. Darauf weist auch der Duden hin. Alternative Bezeichnungen, die auch als Eigenbezeichnungen fungieren sind Schwarze*r, Black People of Colour, People of Color, Person of Color sowie Schwarzer Mensch.

*OTHERING: Das Konzept des Othering ist aus dem Kontext der postkolonialen Theorie entstanden. Von Othering spricht man, wenn sich eine Gruppe oder ein Mensch von einer anderen Gruppe abgrenzt, indem die nicht-eigene Gruppe als andersartig und fremd beschrieben wird. Wichtig ist, dass diese Unterscheidung eine in gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verankerte Praxis ist. Die als anders Beschriebenen sind von Diskriminierung betroffen und haben deswegen kaum Möglichkeiten, sich gegen die Zuschreibung zu wehren.

  • Gefördert vom:
  • im Rahmen des Bundesprogramm
  •  
  •